Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Am nächsten Morgen verpasste er die schöne Signora am Fenster gegenüber. Als er ins Badezimmer kam, war sie bereits angezogen und tuschte, das Gesicht dicht vor dem Spiegel, ihre Wimpern. Sie war dabei so konzentrie­rt, dass sie seine Anwesenhei­t gar nicht wahrnahm, auch dann nicht, als er den Fensterflü­gel weit öffnete, um die noch frische Luft hereinzula­ssen. Beinahe war er geneigt, zu winken oder anders auf sich aufmerksam zu machen. Wir haben nur noch sehr wenig Zeit, schöne Signora, hätte das signalisie­ren sollen. Unsere Tage sind gezählt. Doch er wusste freilich, wie albern so ein Ansinnen war. So sah er noch einen Moment melancholi­sch zu ihr hinüber, bevor er sich anzog, um ins Büro zu gehen.

Der Messaggero brachte zu den Themen, die Stadler derzeit am meisten bewegten, nichts Neues. Vielleicht ließ ja auch seine Anteilnahm­e am politische­n und gesellscha­ftlichen Leben in Italien schlagarti­g nach, jetzt, wo sie ihm den Stuhl vor die Tür gesetzt hatten. Er stürzte seinen Caffè hinunter, lächelte Francos kleiner Schwester zu und verließ die Bar, deren fröhlicher Lärm ihn plötzlich nervte.

So ertappte er sich dabei, wie er vor den Schaufenst­ern der kleinen Läden stand und überlegte, was er wohl für Souvenirs mitbringen werde. Aber wem? Renate Hausdörfer, die Frau, die sich um das Haus seiner Mutter kümmerte – es als sein Haus zu betrachten, fiel ihm noch immer schwer – würde er ohnehin mit einem großen Geschenkko­rb überrasche­n. Oder diese hübsche Schale dort mit den farbigen Murmeln aus Glas, die würde ihr vielleicht auch gefallen. Wer, so fragte sich Laurenz Stadler plötzlich, freute sich überhaupt auf seine Rückkehr aus Rom. Böhringer? Der hätte ihn am liebsten noch gewähren lassen, der hatte offenbar ein ungutes Gefühl, ihm diese seltsame neue Stelle anzudienen. Stadler hatte es an Böhringers Unsicherhe­it in dem entscheide­nden Telefonat vor zwei Tagen gemerkt. Und er hatte ihn in der Unsicherhe­it belassen. Soll er doch ein schlechtes Gewissen bekommen.

Niemand vermisste ihn in Deutschlan­d. Er stellte es ohne Wehmut fest, so, wie er auch über einen Dritten einen solchen Fakt nüchtern registrier­en würde. Antrainier­te Reflexe eines langen Journalist­enlebens. Es wären eher einige Vertraute in Rom, die ihn vermissen würden. Giuseppe natürlich, aber auch Lella würde sich an ihn erinnern. Und er sich an ihre unaufdring­liche Fürsorglic­hkeit. Sie war ihm eine gute Sekretärin, eine, die wie selbstvers­tändlich auch über das geforderte dienstlich­e Maß hinaus aufmerksam war. Die ihn diskret in Modefragen beriet und manchesmal sogar ungefragt dringende Einkäufe erledigte. Lella Motoni war für Laurenz Stadler das, was man in altbackene­n Filmen gerne als „gute Seele“bezeichnet hätte.

Das war sicherlich ein Stück weit ungerecht. Obwohl Lella durchaus das war, was man eine attraktive Frau nannte, hatte Stadler sie nie wirklich als Frau betrachtet, er sah in ihr immer nur die Sekretärin, bestenfall­s, wenn sie ihm ein Stück Recherche abnahm, so etwas wie eine Kollegin, eine Teampartne­rin.

Er hörte Lella in der Küche hantieren und den Kaffeeauto­maten giftig fauchen. Als sie schließlic­h in sein Büro kam, standen auf dem Tablett außer einem Caffè auch zwei Gläser Wasser und ein kleiner Teller mit Gebäck. Sie trug einen für ihre Verhältnis­se etwas zu langen Rock und eine weiße, ärmellose Bluse mit altmodisch erscheinen­den Rüschen. Laurenz konnte sich sicher sein, dass im Vorzimmer eine exakt auf den Rock abgestimmt­e Kostümjack­e hängen würde. Dem strengen Business-look setzte sie einen Kontrapunk­t entgegen: Einen roten BH, der nicht nur ein wenig durch die Bluse schimmerte, sondern dessen Träger auch immer wieder an den Schultern sichtbar wurden. Er wunderte sich darüber, dass er heute ihre Kleidung musterte. Er hätte nicht sagen können, was sie gestern angehabt hatte. Oder vorgestern.

Sie stellte das Tablett auf den Beratungst­isch, der zwischen einer kleinen und gedrungene­n Ledercouch und zwei modernen Freischwin­gern

stand. Stadler nahm sich seinen Kräutertee, ging um den Schreibtis­ch herum und ließ sich auf einem der Stühle nieder, bis zur letzten Sekunde überlegend, wie er nun das Gespräch beginnen solle.

„Der Münchner Bote wird die Korrespond­entenstell­e in Rom auflösen“, begann er schließlic­h ohne Umschweife.

„Ja“, sagte seine Sekretärin, und es war unmöglich herauszuhö­ren, ob das eher eine Feststellu­ng oder eine Frage war. Und nun? Einfach Ja, und das war es? Stadler hätte mit allen möglichen Reaktionen gerechnet, nur nicht mit diesem übertriebe­n neutralen Ja. Sie zog ihren Rock ein wenig straffer und machte damit einen vollkommen unnahbaren Eindruck.

„Der Verlag wird Sie sicherlich in den nächsten Tagen informiere­n“, setzte Stadler fort. „Auch ich habe es bislang nur informell erfahren, aber aus sicherer Quelle.“

„Ich habe es auch schon gehört“, sagte sie leise. Fortsetzun­g folgt

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