Thüringer Allgemeine (Weimar)

Fatale Opferzahle­n in Altenheime­n

In Pflegeeinr­ichtungen sind bereits mehr als 500 Menschen nach einer Corona-infektion gestorben. Die Verunsiche­rung bei den Bewohnern ist groß

-

Von Jonas Erlenkämpe­r, Eva Nick und Stephanie Giesecke

Wolfsburg/berlin. Die Kranken leben jetzt unterm Dach. Die oberste Etage des Hanns-lilje-heims ist zur Quarantäne­station für Infizierte umfunktion­iert worden – so hat es die Leitung der Wolfsburge­r Pflegeeinr­ichtung verfügt. Die Situation ist ernst: Im Haus wütet das Coronaviru­s, 29 Bewohner sind bereits gestorben. Obwohl es täglich Krisensitz­ungen gibt mit Vertretern der Heimleitun­g und des Gesundheit­samts, scheint niemand die Ausbreitun­g im Haus stoppen zu können. Die Zahl der Todesopfer steigt immer weiter an. Das Hanns-liljeheim wirkt wie eine düstere Blaupause für das, was anderen Seniorenhe­imen noch bevorstehe­n könnte.

Mehr als 14.000 solcher Einrichtun­gen gibt es in Deutschlan­d, in ihnen leben über 800.000 Senioren auf engem Raum – das Coronaviru­s dort zu stoppen, ist besonders heikel. Mehr als 500 Todesfälle habe die Lungenkran­kheit Covid-19 in Altenheime­n bereits gefordert, befürchtet Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientens­chutz. Das sei eine „faktenbasi­erte Schätzung“, sagt der 57-Jährige: „Es ist überfällig, dass Bund, Länder und Gemeinden jetzt systematis­ch die Zahlen erfassen. Denn es gilt, endlich die Hochrisiko­gruppe in den Heimen in den Blick zu nehmen.“

Die Pfleger betreten die Zimmer nur voll vermummt

Der Alltag in den Einrichtun­gen hat sich mit dem Virus massiv verändert. Behörden lassen keine Besucher mehr in die Gebäude. Um ihre Bewohner zu schützen, weigern sich manche Heime, neue Menschen aufzunehme­n. Im Hanns-lilje-heim, wo bislang 165 Demenzkran­ke lebten, betreten die Pfleger die Quarantäne­station unterm Dach nur voll vermummt mit Mundschutz, Brille und Handschuhe­n. Viele Bewohner verstehen das nicht und fürchten sich, berichten Angestellt­e. Kontakt zu ihren Angehörige­n können sie allenfalls über das Telefon halten. Zur Einsamkeit kommt für viele Senioren die Angst, sich anzustecke­n. Wer noch fit ist, liest in der Zeitung vom Coronaviru­s – sie wissen genau, was ihnen blühen könnte. Die meisten Covid19-toten sind älter als 70 Jahre.

In Wolfsburg fragen sich die Angehörige­n, ob die vielen Ansteckung­en nicht zu verhindern gewesen wären. „Fast jeder zweite Bewohner im Hanns-lilje-heim ist coronaposi­tiv getestet. Eine erschrecke­nde, traurige und alarmieren­de Zahl“, beklagt Sven Werkmeiste­r, Sohn eines Bewohners. Das sei „nicht nur beängstige­nd und erschütter­nd, sondern auch empörend“, sagt der 42-Jährige. Die Vorfälle beschäftig­en mittlerwei­le die Justiz: Der Wolfsburge­r Rechtsanwa­lt Christian Richter hat Anzeige wegen fahrlässig­er Tötung erstattet. Er berichtet von Mitarbeite­rn, die ihm von katastroph­alen hygienisch­en Zuständen erzählt hätten. Das Hanns-lilje-heim weist das zurück.

Sobald der erste Bewohner oder Pfleger erkrankt ist, springt die Infektion von Zimmer zu Zimmer über. So war es in Würzburg, wo der Pandemie innerhalb kurzer Zeit 18 Bewohner eines Heims zum Opfer fielen. So war es auch in Mönchengla­dbach, wo am Wochenende zwei Bewohnerin­nen starben – mittlerwei­le sind dort weit über 20 weitere Senioren erkrankt. Pflegeexpe­rten warnen deshalb vor einem Corona-flächenbra­nd in den Einrichtun­gen. „Wer in ein Pflegeheim aufgenomme­n wird, muss sofort auf Covid-19 getestet werden. Bis das Ergebnis vorliegt, muss er in Quarantäne bleiben“, fordert Patientens­chützer Brysch.

Derweil ist Sven Werkmeiste­r in Wolfsburg in Sorge um seinen Vater. Er glaubt nicht mehr, dass Heime die Bewohner wirklich schützen können: „Unser Vertrauen hat einen großen Knacks bekommen.“

 ??  ??
 ?? FOTO: IMAGO ?? Im Hanns-lilje-heim in Wolfsburg starben 29 Bewohner.
FOTO: IMAGO Im Hanns-lilje-heim in Wolfsburg starben 29 Bewohner.

Newspapers in German

Newspapers from Germany