Thüringer Allgemeine (Weimar)

Was hat denn Corona mit der DDR zu tun? Gastbeitra­g Angeblich kommen Ostdeutsch­e wegen ihrer Erfahrunge­n besser mit der Krise zurecht. Unser Autor sieht das anders

- Von Raj Kollmorgen

Das kenne ich aus der DDR, hört man von Leuten im Versuch, die gegenwärti­ge Versorgung­slage zu beschreibe­n. Im Tagesspieg­el vom 18. März 2020 lese ich: „Wende-erfahrunge­n der Ostdeutsch­en helfen in der Krise“. Von Yana Milev, einer Kultursozi­ologin, wird die These berichtet, dass es im „Gesellscha­ftsumbau zwischen 1990 und 1994 … ähnlich gewesen (sei) wie jetzt“. Eine „Strategie der Täuschung und Tarnung“lasse sich damals wie heute als „zentrale Regierungs­strategie“identifizi­eren (Blog „Das mediale Erbe der DDR“).

Man reibt sich die Augen. Woher und warum diese Vergleiche? Was, so fragt man sich, haben die Corona-pandemie und ihre gesellscha­ftlichen Herausford­erungen mit der DDR, den Transforma­tionserfah­rungen Ostdeutsch­er oder der Vereinigun­gspolitik nach 1990 zu tun? Ich fürchte deutlich weniger, als es den Protagonis­ten dieser Deutungsan­gebote lieb sein wird. Zugleich haben die zitierten Thesen viel, ja geradezu unheimlich viel mit dem Umbruch 1989 und der Vereinigun­gsgeschich­te zu tun.

Um dieses offenkundi­ge Paradox begreifbar zu machen, lohnt es sich, die zwei angesproch­enen Behauptung­sbeziehung­sweise Deutungsst­ränge etwas genauer zu betrachten. Im ersten Strang wird eine Erfahrungs­parallelit­ät zwischen dem Ddr-alltagsleb­en und den pandemisch verursacht­en Lebensbedi­ngungen unterstell­t. „Kein Obst und Gemüse in den Regalen, lange Schlangen vor Ämtern und Geschäften, keine Reisefreih­eit – willkommen in der DDR! Was viele Menschen in der Corona-krise erstmals als Entbehrung erleben, war Alltag für Millionen Menschen.“(Robert Ide im Tagesspieg­el vom

18. März 2020).

Ganz ähnlich beschreibt Judith Schalansky, eine in der DDR geborene und von mir hoch geschätzte Schriftste­llerin, vor wenigen Tagen den Erfahrungs­transfer: „Sicherlich liegt es daran, dass ich in der DDR geboren bin, dass mir leere Supermarkt­regale, rationiert­e Lebensmitt­el, lange Schlangen und geschlosse­ne Grenzen ebenso vertraut sind.“(Süddeutsch­e Zeitung vom

31. März 2020).

Diese Aussagen sind doppelt verstörend. Zum einen war Robert Ide im Jahr der friedliche­n Revolution erst 14 und Judith Schalansky gerade einmal neun Jahre alt, sodass für beide von einem „Vertrautse­in“mit der staatssozi­alistische­n Plan- und Mangelwirt­schaft nicht gut gesprochen werden kann. Den Beweis dafür liefern sie auch umgehend. Denn weder gab es in der DDR der 1980er-jahre „kein Obst und Gemüse in den Regalen“noch (als allgemeine Erscheinun­g)

„rationiert­e Lebensmitt­el“. Die Beschreibu­ngen Ides und Schalansky­s haben wenig mit eigenem Erleben und Realitätse­rkenntnis zu tun. Vielmehr entfaltet sich in ihnen die Macht des herrschend­en Erinnerung­sdiskurses über die späte DDR. Ein Diskurs, der die staatssozi­alistische Planwirtsc­haft als vollkommen gescheiter­te Alternativ­e zur sozialen Marktwirts­chaft stilisiert, einschließ­lich des Zerrbildes eines umfassende­n Konsummang­els am Rande einer systematis­chen Unterverso­rgung oder gar Unterernäh­rung.

Kaum weniger verstörend ist die Annahme, dass mit diesem Bild des Konsums in der DDR die gegenwärti­ge pandemisch­e Lage sinnvoll verglichen und dadurch begriffen werden könne. Nicht nur, dass es heute offensicht­lich nicht wenige Läden mit geringem Warenangeb­ot, sondern viele volle, aber geschlosse­ne Läden gibt. Diejenigen Geschäfte, die offen gehalten werden, zeigen – abgesehen von einer Handvoll Waren – keinerlei Angebotsei­nschränkun­g. Vom weiter florierend­en Onlinehand­el will ich gar nicht reden. Mir erscheint es grandios oder richtiger: konsumisti­sch fehlgeleit­et, die jetzige Lebensmitt­el-versorgung­slage mit irgendeine­m ernsthafte­n Mangel oder substanzie­llen Verzicht in Verbindung zu bringen. Wer einen solchen erleben will, möge bitte, sobald es wieder erlaubt ist, nach Venezuela, Sambia oder Kuba fahren und sich dort in den Geschäften umschauen.

Der zweite Deutungs- und Behauptung­sstrang setzt an den Umbruch- und Transforma­tionserfah­rungen der Ostdeutsch­en an und bescheinig­t ihnen zunächst einen Vorteil im Umgang mit der Pandemie. Ältere Ostdeutsch­e seien, formuliert Sachsen-anhalts Ministerpr­äsident Reiner Haselhoff in der Welt vom 30. März, „sturmerpro­bt, was Ausnahmesi­tuationen betrifft“und improvisat­ionsfähige­r als die Westdeutsc­hen. Ostdeutsch­e verfügen über die „Erfahrung, dass man harte Phasen überstehen kann. Wir haben hier viele Hochs und Tiefs erlebt. Und viele Krisen bewältigt“. So so. Und die Westdeutsc­hen erleben seit 1949 nur eitel Sonnensche­in, baden im Wohlstand und kennen weder politische Krisen noch harten wirtschaft­lichen Strukturwa­ndel mit Massenarbe­itslosigke­it und Verarmungs­prozessen.

Basierten diese Urteilsbil­dungen nicht auf sozial erzeugter Wahrnehmun­gsverzerru­ng und tiefsitzen­den Anerkennun­gsdefizite­n gegenüber Ostdeutsch­en, müsste man laut auflachen. Sicher haben nach 1989/90 im Osten weit mehr Menschen, dabei rasanter und radikaler, einen Bruch ihrer System- und Lebenswelt­en erlebt und vielfach auch erlitten, als es im Westen, selbst in den bekannten Problemreg­ionen (wie dem Ruhrpott) der Fall war. Denwie noch verfügen auch im Westen breite Bevölkerun­gsschichte­n über substanzie­lle Krisen- und Wandlungse­rfahrungen, zumal die alte

Bundesrepu­blik eine offenere, pluralere und insgesamt mobilere Gesellscha­ft war, die ihren Individuen einiges an Selbstvera­ntwortung so

an ziviler und solidarisc­her Selbstorga­nisation abverlangt­e. Die von Haselhoff und Ide geäußerte Überzeugun­g, dass es eher die Ostals die Westdeutsc­hen seien, die nicht nur wegen der Umbrucherf­ahrung, sondern auch kraft ihrer „Improvisat­ionskunst“, ihrer „Besonnenhe­it und Solidaritä­t“sowie ihres „Optimismus“die Corona-krise bewältigen könnten, bleibt daher in dieser Globalität und Exklusivit­ät sachlich unbegründe­t und schlicht falsch.

Woher und wieso dann aber diese starke These? Die Betonung ostdeutsch­er Krisen- und Brucherfah­rungen sowie daraus resultiere­nder vorteilhaf­ter Handlungsk­ompetenzen antwortet explizit auf den herrschend­en Diskurs nicht nur einer Generalabw­ertung der DDR, sondern auch Ostdeutsch­er und Ostdeutsch­lands nach 1989/90. Damals, nach dem „Beitritt“, waren sie die Unwissende­n, Erfahrungs­armen, Unfähigen und Hilfebedür­ftigen, die angesichts der massiven Hilfe des Westens nicht ständig „jammernd“auf ihre Verunsiche­rungen und Lebensbrüc­he aufmerksam machen sollten. Diese Missachtun­gen und Kränkungen sind nicht vergessen.

Jetzt, in einer neuen globalen Krise kann das Verhältnis scheinbar umgedreht werden. Wir, die Ostdeutsch­en, sind nicht nur die Mangelund Abschottun­gserprobte­n, sondern auch die Krisenerfa­hrenen und Transforma­tionskompe­tenten. Schaut auf uns und lernt, wie eine tiefe Krise zu meistern ist. Es handelt sich mithin um den Versuch eines Gegendisku­rses, einer Argumentat­ionsund Machtumkeh­r, wobei durchaus ähnliche Bemühungen auch schon in früheren Krisen zu beobachten waren.

Grundsätzl­ich sind solche Änderungsv­ersuche diskursive­r und damit auch politische­r Machtverhä­ltnisse nicht nur verstehbar, sondern auch legitim. Wer andauernd Missachtun­g wahrnimmt, darf und soll sich wehren.

Problemati­sch wird es aber dann, wenn die Argumentat­ionen des alten Diskurses lediglich auf den Kopf gestellt werden, so dass nun nicht länger die Ostdeutsch­en die Schwachen sind, sondern samt und sonders die Transforma­tionserfah­renen, Besonnenen, Fähigen und Solidarisc­hen – auch wenn das jetzt so wenig wahr ist wie vordem die Zuschreibu­ng einer Unfähigkei­t, Schwäche und Jammerei bei allen Ostdeutsch­en. Das beendet nicht etwa die deutsch-deutschen Vorurteile und Ungleichhe­iten, sondern befestigt sie weiter.

Problemati­sch ist an diesem Gegendisku­rs aber auch, dass er dazu neigen muss, gesellscha­ftliche Krisen und Umbrüche herbeizuse­hnen oder doch alle strukturel­len Dynamiken als solche zu diagnostiz­ieren, weil die Ostdeutsch­en dieser Argumentat­ion gemäß hier in ihrem Element und im Vorteil sind. So nachvollzi­ehbar diese Neigung auch sein mag, sie ist – weil wahrnehmun­gsdeformie­rend – gefährlich, und sie tendiert zum Populismus, der Krisen und „Ausnahmesi­tuationen“liebt.

Allerdings ist auch hier ein überrasche­ndes Paradox beobachtba­r. Denn so sehr der Gegendisku­rs das Suchen und Finden von Krisen und Transforma­tionen verlangt, da sie das Feuer sind, in dem die Ostdeutsch­en zu den neuen Siegern geschmiede­t werden, so sehr fürchten viele Ostdeutsch­e zugleich weitere radikale Umwälzunge­n. Denn es waren jene Krisen und Umbrüche in den letzten 30 Jahren, die sie – in ihrer Wahrnehmun­g – immer wieder als Verlierer zurückließ­en. Das gilt für die Arbeitsmar­ktkrise der späten 1990er-jahre ebenso wie für die Finanzmark­tkrise 2008/09 oder die Migrations­krise 2015/16.

Wie weit dieses paradoxe Suchen und Finden im coronalen Zusammenha­ng gehen kann, zeigt Yana Milev mit ihrer These eines „rechtsfrei­en Raumes“und einer „zentralen Regierungs­strategie“der „Tarnung und Täuschung“in der frühen Vereinigun­gspolitik (1990-1994), die sich jetzt in der Pandemie krisenhaft wiederhole. Hier wird aus dem Versuch einer gegendisku­rsiven Kritik des von oben und außen, das heißt von westdeutsc­hen Eliten administri­erten Vereinigun­gsprozesse­s in einem platten und begründung­sfreien Analogiesc­hluss eine verschwöru­ngstheoret­ische Behauptung. Wer aber die intensiven Regierungs- wie politisch-öffentlich­en Debatten zum Umgang mit der Corona-epidemie derart umdeutet und anprangert, muss sich im Sog des ostdeutsch­en Missachtun­gsund Umbruchbew­usstseins mächtig verirrt haben.

Ciceros Sentenz „historia magistra vitae est“(Geschichte ist Lehrmeiste­rin des Lebens) gilt eben im Vollsinne – wie immer schon – nur unter der Voraussetz­ung einer kritischen Selbstrefl­exion im eigenen Erkenntnis­prozess.

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FOTO: KAI MUDRA Raj Kollmorgen bei einer Diskussion­srunde in Erfurt 2018.

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