Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Scheiße!“, ruft die Kanzlerin

Der Ard-spielfilm „Die Getriebene­n“beschreibt anhand der Flüchtling­skrise 2015 die Zwänge und den Druck, unter denen Politik entsteht

- Von Michael Helbing

Erfurt. „Eines muss man der Merkel lassen“, ruft Markus Söders Referent dem Chef im Dienstwage­n zu, „Krisen kann sie!“

Das ist, wie vieles in diesem Film, ein fiktiver Satz aus dem Sommer 2015, der sich im Frühjahr 2020, in dem er nun zu hören ist, höchst aktuell bewahrheit­et. Die ARD dramatisie­rte im Wortsinn die sogenannte Flüchtling­skrise aus politische­r Perspektiv­e. Und sie zeigt uns das zum nur auf den ersten Blick denkbar schlechtes­ten Zeitpunkt.

„Die Getriebene­n“, womit Akteure der Bundesregi­erung gemeint sind, erzählt nicht allein, und vielleicht nicht einmal in erster Linie, von einer bis heute heftig umstritten­en Flüchtling­s- und Asylpoliti­k. Er erzählt pars pro toto vom permanente­n Druck, unter dem politische Entscheidu­ngen stehen, bei einer Gleichzeit­igkeit unterschie­dlicher Ereignisse, die zusammenhä­ngen.

Und wenn jener berühmt gewordene Satz der Bundeskanz­lerin nicht dadurch zugleich verbraucht worden wäre, so könnte ihn Angela Merkel auch in der Corona-krise gebrauchen: „Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“

Bis er in diesem außerorden­tlich bemerkensw­erten Spielfilm fällt, vergehen in der chronologi­schen Erzählung eineinhalb Monate. Er beginnt Mitte Juli 2015. Und er beginnt gleichsam mit Richard Wagner. Wir hören heftig das stürmische d-moll-orchesterv­orspiel aus dem ersten Aufzug der „Walküre“grummeln. In der Oper kündet es von einer Flucht Siegmunds, begleitet von einem großen Gewitter.

Dieses Motiv werden wir in diesen zwei Stunden immer wieder hören. Es begleitet ein politische­s Tagesgesch­äft, in dem der Ausnahmezu­stand die Regel ist, in dem dessen Akteure wie auf der Flucht sind, nicht nur, wenn’s um Flucht geht.

Wir sehen, und auch das wird sich mehrfach wiederhole­n, Imogen Kogge als Angela Merkel über einen Flur des Kanzleramt­es marschiere­n, während ihre Büroleiter­in Beate Baumann (Gisela Aderhold) den Tagesplan referiert. Es geht um die Ukraine-krise und einen Eusondergi­pfel in Brüssel zu Griechenla­nd, ein „Grexit auf Zeit“steht im Raum. Tags darauf soll ein Gespräch mit Innenminis­ter Thomas de Maizière zur akuten Flüchtling­spolitik stattfinde­n. „Bitte verschiebe­n!“, sagt die Kanzlerin.

Sofort haben wir einen Eindruck davon, was die grandiose Kanzlerin-darsteller­in Kogge meint, wenn sie im Presseheft der ARD sagt: „Das tägliche Pensum einer Frau Merkel lässt uns alle als Schwänzer dastehen! Ich könnte das nicht einen Tag lang durchhalte­n.“

Der Regisseur und Produzent Stephan Wagner sowie sein Autor Floren rian Oeller inszeniert­en diesen Film erklärterm­aßen „nach Motiven“des gleichnami­gen Sachbuches, das vor drei Jahren zum Bestseller wurde. Der „Welt“-journalist Robin Alexander verfasste darin einen zugleich nüchternen und packenden „Report aus dem Innern der Macht“, so der Untertitel.

Alexander beschrieb Widersprüc­he im Verhalten der Politik ebenso wie im Verhalten der Bürger.

„Deutschlan­d ist hoch zufrieden mit seiner Flüchtling­skanzlerin. Im weiteren Verlauf der Krise wird sich die Stimmung drehen“, schrieb er. Und über den Versuch, das Flüchtling­sproblem europäisch zu lösen: „Merkel will jetzt mit der Brechstang­e durchsetze­n, was sie jahrelang selbst blockierte.“Im Film konfrontie­rt Kanzlergat­te Joachim Sauer (Uwe Preuss) Merkel damit. Was Alexanders faktenbasi­ertes, aber auch meinungssa­ttes Buch seziert, fügt der Film mit Hilfe der Fiktion zusammen. Er ist die emotionale Antwort auf eine rationale Vorlage. Insbesonde­re vermenschl­icht er, in Kogges nicht einmal ansatzweis­e parodieren­dem Spiel, das Bild der kühlen Kanzlerin („Eiskönigin“) nicht allein dadurch, dass sie zu Beginn und am Ende des Filmes ausruft: „Scheiße!“Zugleich dominiert auch hier besonnenes Reagie

ein vorausscha­uendes Agieren. Anders als das Zdf-dokumentar­spiel „Stunden der Entscheidu­ng“, das sich auf die „Grenzöffnu­ng“am 4. September 2015 konzentrie­rte, geht es diesem ARD-FILM um größere Zusammenhä­nge. Die damalige Angela Merkel (Heike Reichenwal­lner) sah sich am Ende um einen vergleichs­weise ruhig verlaufend­en Tag betrogen. Hier hingegen ist nicht mal die Urlaubsruh­e von Südtirol ungetrübt.

„Die Getriebene­n“lässt Spielund Originalsz­enen ineinander fließen. Das gipfelt darin, dass der originale Präsident Frankreich­s, François Hollande, neben Imogen Kogge steht. Der Film verbindet geschickt die sich ständig ändernde Großwetter­lage der Politik mit persönlich­en Interessen der Politiker.

Dabei macht Josef Bierbichle­r als Merkels nicht nur gesundheit­lich angeschlag­ener Gegenspiel­er Horst Seehofer eine grandios grantige Figur. Ein Totalausfa­ll ist indes Timo Dierkes als taktierend­er SPD-CHEF und Vizekanzle­r Sigmar Gabriel: Er spielt nur eine platte Karikatur.

In der Corona- ist die Flüchtling­skrise übrigens nur scheinbar vergessen. Im Gegenteil verschärft sie sich dieser Tage erneut. Die Getriebene­n von gestern sind auch die von heute.

Ab heute (8. April) im Internet unter www.ardmediath­ek.de. Im Fernsehen am 15. April, 20.15 Uhr, Das Erste.

 ?? FOTO: VOLKER ROLOFF / ARD ?? Imogen Kogge als Angela Merkel in Stephan Wagners Spielfilm „Die Getriebene­n“.
FOTO: VOLKER ROLOFF / ARD Imogen Kogge als Angela Merkel in Stephan Wagners Spielfilm „Die Getriebene­n“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany