Begegnung zweier Welten Aus unserer Seniorenredaktion Wer einen Austauschschüler aufnimmt, lernt auch andere und sich selbst zu verstehen
Ruhla. Den Traum von der Ferne träumen viele, besonders junge Menschen. Junge Leute ticken global und wollen die Welt kennenlernen. Es geht um das zeitlich begrenzte Leben in einem fremden Land und in einer neuen Familie. Sie wollen etwas erleben, und wer in einer globalisierten Welt nach oben will, muss Erfahrungen im Ausland sammeln. Zweifelsohne eine mutige Entscheidung für alle, die sich das trauen. Vor allem Gymnasiasten stürzen sich mit einer mutigen Entschlossenheit in dieses Abenteuer. Eine spezialisierte Organisation übernimmt die Suche nach Gasteltern und vermittelt die Austauschschüler.
Es ist Anfang Februar, und wir nehmen Ian, unseren Gastschüler aus Kolumbien, am Erfurter Hauptbahnhof in Empfang. Er ist 15 Jahre und kommt von einer deutschen Schule, dem Colegio Andino in Bogotá. Ian ist ein freundlicher, zurückhaltender Junge, dem man seine lateinamerikanische Herkunft ansieht. Schwarze Haare, dunkle Augen, dunkler Teint. Er spricht bereits gut deutsch. Obwohl ich durch meinen wiederholten und jahrelangen Aufenthalt in Kolumbien glaube, die „kolumbianische Seele“etwas zu verstehen, bin ich gespannt auf unser Miteinander.
Mein Mann und ich verstehen es auch als eine Art „Selbstoptimierungsprogramm“, welches wir uns selbst empfohlen haben. Wir wollen mit Hilfe von Ian unserem Alltagstrott ein Schnäppchen schlagen, unsere gemütliche „Alltagslethargie“durchbrechen und einen frischen Außenblick auf unser beschaulich-bequemes Leben zulassen.
Ein Schüleraustausch von Kolumbien nach Deutschland ist eher selten, elitär auf jeden Fall. Unsere Annahme, dass nur sehr aufgeweckte junge Leute, die großes Interesse am Kennenlernen fremder Menschen und fremder Kulturen haben, einen solchen Schritt tun, mussten wir in den ersten Wochen mehrfach hinterfragen. Bald stellten wir fest, dass Ian ein komfortables Leben mit Dienstmädchen und Gärtner gegen einen anderen, neuen Familienlebensentwurf in Deutschland getauscht hat. Alles Fremde macht ihm zu Beginn Angst und er war bereit, dies auch eher negativ zu bewerten.
Unser Miteinander ist sehr freundlich-distanziert. Wir vereinbarten, täglich eine angemessene Zeit dafür zu verwenden, alles Wichtige des Tages zu besprechen und zu reflektieren. Ich entdecke für mich, dass ich einige Alltäglichkeiten erklären und selbst neu überdenken muss. Es macht mir großen
Spaß, Ian unsere Welt zu erklären, und ich höre ihm ebenso gespannt zu, wenn er von seiner Welt und von seiner Familie berichtet.
Wie unterschiedlich unsere Lebensentwürfe sind, wird mir in jedem unserer Gespräche bewusst. Einmal frage ich Ian, ob es seine eigene Entscheidung war, als Austauschschüler nach Deutschland zu gehen. Seine ehrliche Antwort verwunderte mich nicht: „Ich wollte das nicht. Meine Schule und meine Mama wollten es.“
Mit der Zeit mag Ian einiges von dem, was er vorher nicht kannte, doch manches ängstigt ihn nach wie vor. Mit einem verwunderten Schmunzeln vernehme ich seine Frage, warum es in unserem Haus einen Keller und einen Boden gibt. Mein Angebot, beides gemeinsam zu erkunden, lehnt Ian mit der Begründung „Angst“ab.
Auch das Licht brennt Tag und Nacht in seinem Zimmer. Wir sprechen auch über das schulische Geschehen, für das er oft kein Verständnis zeigt. So beklagt er, dass in Bogotá im Unterricht jeder Schüler die ganze Zeit mit anderen Schülern erzählt und viel lacht. Er versteht die aufmerksame Ruhe im Unterricht am Gymnasium in Ruhla nicht. Ian ist ein sehr aufmerksamer, genau beobachtender, feinsinniger und respektvoller Junge, mit dem es großen Spaß macht, unser tägliches Geschehen zu besprechen und viel zu unternehmen. Mit der Zeit werden unser Umgang und unsere Gespräche lockerer und vertrauter.
Doch dann kommt Corona.
Und Ians ängstliche Seite kommt wieder zum Vorschein. Seine Eltern entscheiden von einem Tag zum anderen, dass Ian nach Hause kommen soll. Sehr plötzlich und überraschend für uns alle. So ist sein mutiger Ausflug in eine für ihn so fremde Welt, die er sich gerade anschickte zu erobern, bereits nach sieben Wochen beendet. Wir sind sehr traurig darüber. Ian auch. Aber er verspricht, dass er wiederkommt, sobald es möglich ist. Schüleraustausch klingt gut und irgendwie einfach. Aber einfach ist es keinesfalls. Seien es die übersteigerten Erwartungen der Schüler oder der Gasteltern. Es kann so vieles nicht passen. Bei uns hat, trotz aller Unterschiedlichkeit alles bestens gepasst. Wir haben immer den richtigen Ton gefunden um das Anderssein zu besprechen, und waren bereit, den anderen zu verstehen. Ich finde, dass Ian ein sehr mutiger Junge ist, der sich getraut hat, dieses Abenteuer in Ruhla einzugehen. Wir sind ihm unendlich dankbar für unsere gemeinsame Zeit. Und, wir sehen uns bestimmt wieder.
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