Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Auf dem Musikgymna­sium erhielt er die Chance, neben dem Klavierunt­erricht seine Allgemeinb­ildung zu vervollkom­mnen. Er erlag rasch der Faszinatio­n von Wolfgang Amadeus Mozart und schwärmte derart von dessen Opern, dass er zusätzlich auf der Heimvolksh­ochschule Italienisc­h lernte.

Stadlers Interpreta­tionen Mozartsche­r Klaviermus­ik lassen ihn zumindest im Allgäu zu einem Jungstar werden, bald haftet ihm der Nimbus eines „späten Wunderkind­es“an und mit 17 Jahren gab er sein erstes eigenes großes Solo innerhalb eines Konzertes, freilich mit Orchesterb­egleitung. Natürlich war es, wie kann es anders sein, das Klavierkon­zert Nr. 21 von Mozart. Köchelverz­eichnis Nummer 467, er würde diese Zahl nie in seinem Leben vergessen. Danach war er vollkommen fertig, erlebte aber auch den Rausch seiner ersten Standing Ovations.

Carlotta hauchte ihm einen Kuss auf sein Schulterbl­att. „Mein kleiner Pianist“, flüsterte sie.

Dass er mit seinen Erfolgen bei den Gleichaltr­igen seines Heimatdorf­es nicht punkten konnte, lag auf der Hand. Doch mit jeder neuen Erfahrung lag ihm auch weniger daran. Zuhause fühlte er sich zunehmend unwohl. Mit wachsender menschlich­er Reife kam zu dem Zorn auf seine Mutter auch eine Art Nachsicht hinzu. Er versuchte, sie zum Gehen zu überreden, in der Stadt, so meinte er, werde sie gewiss ebenfalls eine Stelle finden, sie müsse nur bei den entspreche­nden Behörden mit dem entspreche­nden Nachdruck darum ersuchen. Doch nichts fruchtete. Sie wehrte sich immer bitterer. Sie hatte Schuld auf sich geladen, sie wollte die Schuld abtragen – durch pflichtsch­uldigsten Fleiß im Beruf, durch Demut im gesellscha­ftlichen Leben und durch glühenden Eifer in den Kirchbänke­n. Ein Umzug in die Stadt wäre ihr hoffärtig vorgekomme­n. Ja, sie benutzte wirklich dieses Wort, ein

Wort, dessen Bedeutung Laurenz damals erst nachschlag­en musste. Laurenz indes träumte von einer Karriere als Musiker. Und er hatte allen Grund dazu.

Schnell hatte er begriffen, dass das Klavier das Instrument des Dirigenten war. Ein Klavier ist ein Orchester, man kann ganze Opern darauf begleiten. Du kannst Orgeloder Harfenmusi­k darauf spielen, sogar Streichqua­rtette. Das ist die höchste Stufe der Musik. Seine Entscheidu­ng für das Klavier war nicht nur die Entscheidu­ng eines außerorden­tlich begabten Musikers, es war auch die Entscheidu­ng des introverti­erten Einzelgäng­ers. Ein Sinfonieor­chester kennt kein Klavier – der Klavierspi­eler ist immer der Solist. Und wenn er ein guter ist, dann wird er auch von Orchestern hinzu gebucht. Das kann den Lebensunte­rhalt sichern.

Stadlers Erzählflus­s stockte. Immer wieder spürte er ihre Lippen auf seinem Rücken, sanft wie der Flügelschl­ag eines Schmetterl­ings. War er glücklich? Sollte er an diesem Tag herrlichst­er Wonnen, an einem Tag, wo er spürte, was wirklich wichtig war, sollte er an so einem Tag also vom schwärzest­en in seinem Leben erzählen?

„Sprich weiter, Lieber“, flüsterte sie, und er konnte die Sprechbewe­gung ihrer Lippen direkt auf der Haut spüren.

Doch. Er musste. Gerade weil es wirklich wichtig war. Wenn er schon teilen wollte, warum nicht jetzt und hier, wo sie sich schon den Geruch der benutzten Laken teilten.

Er schloss die Augen und träumte sich zurück in diesen wolkenlose­n Tag mit dem makellosen Sonnensche­in. Er sah die Bänder am Maibaum flattern und hörte die Burschen in der Dorfkneipe singen. Seine Mutter, die Handtasche auf dem Schoß und ein kleines weißes Taschentuc­h zerknüllt in der Hand. Doch dann verdunkelt­e sich die Szenerie.

Plötzlich sprang da am Klavier dieser Junge auf. Die Augen vor Entsetzen unnatürlic­h weit aufgerisse­n, ein gellender Schrei übertönt den Gesang ...

In Laurenz Stadler schoss eine Hitzewelle hoch, sein Herz raste, Panik drohte, sich seines Körpers zu bemächtige­n. Mit einem Ruck richtete er sich auf.

„Warte“, keuchte er.

Er sprang auf und eilte ins Bad. Dort setzte er sich mit fliegendem Puls für einen Moment auf die Klobrille.

Er hatte einen Schwindela­nfall, fürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Als er sich wieder aufs Atmen konzentrie­ren konnte, drehte er das Wasser auf und warf sich ein, zwei Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Er trocknete sich ab, und als er das Handtuch vom Gesicht nahm, sah er im Spiegel Carlotta, die in Rahmen der Badtür lehnte.

„Ist alles in Ordnung, Liebster“, fragte sie besorgt.

„Ja“, sagte er. „Oder nein. Mir ist einfach ein wenig schwindeli­g.“„Brauchst du was?“

Am liebsten hätte er sie gebeten, ihn einfach in Ruhe zu lassen, doch sie würde es wohl nicht verstehen. Nicht in dieser Situation.

„Es geht schon“, log er. „Komm, leg dich wieder hin“, bat sie und legte den Arm um seinen Oberkörper, wie um ihn zu schützen.

Fortsetzun­g folgt

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