Kollaps an Englands Küsten
Massenansturm, Massenschlägereien, Müllmassen: Gesundheitsminister droht damit, Strände zu schließen
Bournemouth. Der Morgen danach war der Morgen des Mülls. Die sonst so gepflegten, breiten Sandstrände des südenglischen Seebads Bournemouth mit seiner viktorianischen Architektur glichen einer Abfallhalde. Zum Teil schon in der Nacht war mit den „Mammutaufräumarbeiten“begonnen worden, twitterte die Lokalreporterin Emily Hudson am Freitag. 22 Tonnen Plastik und Glas seien aufgesammelt worden.
Der Tag davor war der bisher heißeste Tag des Jahres in Großbritannien: Bei 33 Grad in London stürmten die Briten die Strände, allein 500.000 Besucher sollen es in Bournemouth gewesen sein. Dicht an dicht sonnten sich die Massen im Sand. Masken? Fehlanzeige. Sie störten offenbar beim Trinken. Es kam zu Alkoholexzessen, drei Verletzten durch Messerstechereien und einem Verkehrskollaps. Die überforderten Einsatzkräfte lösten sogar einen „ernsten Zwischenfall“aus, weil die Lage nicht mehr beherrschbar war. Das gibt ihnen mehr Rechte und Abstimmungsmöglichkeiten. Solche Menschenmengen habe es sonst nur an den Feiertagen gegeben, teilten Vertreter
der Stadt mit. „Wir sind absolut entsetzt über die Szenen an unseren Stränden.“
Die Eskalationen schreckte auch Gesundheitsminister Matt Hancock auf. Er drohte wegen der Missachtung von Corona-vorschriften damit, die Stränden zu schließen. „Das Letzte, was die Leute wollen, ist, dass das Virus wiederkommt“, sagte Hancock dem Sender Talkradio. Die Vorschriften zur sozialen Distanz müssten eingehalten werden. Sollten die Fallzahlen erneut steigen, dann werde die Regierung handeln. „Wir dürfen nicht rückwärtsgehen. Wir müssen diese Krankheit stoppen“, sagte er. Dabei ist Großbritannien mit bisher 43.000 Toten am schlimmsten in Europa von der Corona-krise betroffen. Jeder Landesteil hat eigene
Vorschriften im Kampf gegen die Pandemie. Premier Boris Johnson hatte schon vor Wochen Tagesausflüge in England erlaubt und war damit auf Kritik gestoßen.
„Bereit, unsere
Strände zu opfern“
Entspannt war die Fahrt in den Süden für niemanden: Viele Besucher reisten aus London und sogar aus Birmingham an und mussten kurz vor Bournemouth bis zu zwei Stunden warten, bis sie mit ihren Autos in die Stadt kamen. Auch die Züge waren überfüllt. Ordnungskräfte und Vertreter der Stadt sagten, dass sie beim Eingreifen bespuckt worden seien.
Auch anderenorts glich Großbritannien einer Riesenparty. Das Versammlungsverbot schien niemanden zu scheren: Tausende Menschen feierten am Donnerstagabend den Fußballmeisterschaftsgewinn des FC Liverpool, der von Jürgen Klopp trainiert wird, am Anfield-stadion. Glückselige Fans umarmten sich, entzündeten Feuerwerkskörper, kletterten auf Zäune und Laternen.
Wer in London blieb, haute mitunter dort auf den Putz: Zwei illegale Straßenpartys wurden von der Polizei aufgelöst – die wütenden Feiernden attackierten die Beamten mit Flaschen, 22 wurden verletzt. Selbst im sonst so beschaulichen Wales lagen die Nerven blank: An dem überfüllten Strand im Küstendorf Ogmore-by-sea kam es zu einer Massenschlägerei.
Vikki Slade, Ratsvorsitzende in Bournemouth, ist empört: „Die Leute hier würden es begrüßen, wenn ihre Strände geschlossen würden“, sagte sie im Frühstücksfernsehen der BBC. „Sie würden ihre Strände opfern angesichts des Benehmens, das sie hier sehen.“
Furchtvoll blicken Anwohner und Behörden dem 4. Juli entgegen: Am „Super Saturday“dürfen die Pubs wieder öffnen. Am Freitagnachmittag war die Situation an den Stränden entspannter – vorerst.