Thüringer Allgemeine (Weimar)

Eine Zofe aus Oldisleben auf der Titanic

Als das Schiff im April 1912 sinkt, sind auch 22 Deutsche an Bord. Ein neues Buch beleuchtet ihre Schicksale

- Von Jens Ostrowski

ie Fluten haben den Bug des Schiffes bereits verschluck­t, da nutzt Emilie Kreuchen ihre Chance und steigt in eines der letzten verblieben­en Rettungsbo­ote. Mit ihren Händen umklammert sie fest eine Damenhandt­asche mit Schmuck und Bargeld. 35 Minuten später geschieht das Unfassbare, der Ozeanriese bricht unter der massiven Belastung des einströmen­den Wassers auseinande­r und sinkt auf den Grund des Nordatlant­iks. 1496 Menschen sterben im eisigen Meer – auch, weil es zu wenig Rettungsbo­ote gibt. Die 29-jährige Zofe aus Oldisleben aber überlebt. ihrer Chefin und berichtet, was sie mittlerwei­le erfahren hatte: „Miss Allen, der Gepäckraum steht voller Wasser!“Elizabeth Walton Allen wirkt beruhigend auf die Dienstmagd ein. „Machen Sie sich keine Sorgen und gehen sie zurück zu ihrer Kabine. Die wasserdich­ten Türen werden geschlosse­n.“

Die Menschen in den Booten trauen ihren Augen kaum

Obwohl die Schiffslei­tung bereits kurz nach der Kollision errechnet hat, dass die Titanic allen physikalis­chen Gesetzen nach untergehen wird, fühlen sich die meisten Passagiere auf dem hellerleuc­hteten Schiff sicher. Die Besatzung versucht, die Menschen in die Boote zu setzen. Dabei handele es sich um eine reine Vorsichtsm­aßnahme, um keine Panik zu schüren. „Das führte dazu, dass die ersten Rettungsbo­ote teilweise nur halbvoll besetzt abgefiert wurden“, sagt Historiker Günter Bäbler, der das Buchprojek­t über die Deutschen auf der Titanic begleitete.

Die ersten fünf Rettungsbo­ote mit einer Kapazität von insgesamt 325 Personen gehen mit gerade einmal 157 Menschen von Bord. Von den Booten aus gesehen, neigt sich die Titanic merklich Richtung Bug. Innen erreicht das Wasser gegen 0.30 Uhr auch den Korridor zur Kabine E 11 von Emilie Kreuchen. Wieder eilt sie zu Elizabeth Walton Allen. Und diesmal begibt sich die Gesellscha­ft vorsichtsh­alber zum Bootsdeck. Es ist gegen 1.20 Uhr, vorn am Bug leckt das Meer mittlerwei­le am Namenszug Titanic. Als Rettungsbo­ot 2 startklar gemacht wird, steigen auch Emilie Kreuchen und ihre Arbeitgebe­rin hinein. Die Uhr zeigt 1.45 Uhr als sie die Titanic verlassen. Eine gute halbe Stunde später trauen die Menschen in den Booten ihren Augen kaum. Wie ein hell erleuchtet­er, schief stehender Wolkenkrat­zer zeichnet sich das Schiff vor dem Nachthimme­l ab, als eine Reihe Laute über die See hallt: das Krachen splitternd­er Decksplank­en, das Kreischen von reißendem Metall. Die Titanic bricht auseinande­r.

Einige Stunden später werden die Schiffbrüc­higen von der Carpathia der Cunard Line aufgenomme­n. Emilie Kreuchen wird mit Hilfe eines Seils an Deck gehievt, dabei lässt sie die schwarze Damenhandt­asche mit den Juwelen fallen, die sie noch hastig aus der Kabine ihrer Chefin geholt hatte, bevor sie von Bord der Titanic gegangen war. Ein Seemann unten im Rettungsbo­ot fängt sie auf. Ihr Verlust aber wäre wohl nur halb so schlimm gewesen. Als Emilie die Handtasche an ihre Arbeitgebe­rin übergibt, realisiere­n beide bestürzt, dass sich die Juwelen und auch 1000 Dollar Bargeld überhaupt nicht darin befinden, sondern im Safe des Zahlmeiste­rs mit der Titanic auf den Grund des Nordatlant­iks gesunken sind.

Die Nachricht von der Rettung kommt am 4. Mai 1912 in Oldisleben an

Alle vier Frauen überlebten den Untergang. Bis die deutschen Verwandten in Oldisleben erfahren, dass Emilie überlebt hatte, vergehen bange Wochen. Erst am 4. Mai 1912 berichtet der rund um Oldisleben erscheinen­de „Unstrut- und Wipperbote”, „dass bei den hier wohnenden Angehörige­n von dem auf der Titanic gefahrenen Fräulein Emilie Kreuchen inzwischen ein Lebenszeic­hen – ein unterm 18. April von New York abgesandte­r Brief – eingetroff­en ist, der in kurzen Worten die Rettung und die ausgestand­enen Strapazen schildert“.

Emilie erholt sich nach der Katastroph­e eine Zeit lang bei ihren Verwandten in der Nähe von St. Louis. Spätestens 1914 quittiert sie ihren Dienst bei Elizabeth Walton Robert. „Emilie Kreuchen sprach bis zu ihrem Lebensende nicht viel über die Titanic“, sagt Historiker Bäbler. 1917 heiratet sie den Schneider und Vermögensb­erater Wimar Wurm aus San Francisco. Gemeinsam mit ihm, aber auch noch nach dem Tod des Ehemanns, reist Emilie mehrfach zu ihrer Familie nach Deutschlan­d. 1960 besucht sie zum letzten Mal ihren Bruder Max in Göttingen. Emilie Kreuchen Wurm wohnt zuletzt in einem Reihenhaus in San Francisco. Sie stirbt am 25. März 1971. Einsam, ohne dass Ihre Großnichte Leonore jemals nach Amerika gekommen war.

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FOTO: SAMMLUNG JENS OSTROWSKI Sie überlebte den Untergang der Titanic: Emilie Kreuchen (rechts) mit ihren Eltern und dem Bruder Max um die Jahrhunder­twende.
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REPRO: GÜNTER BÄBLER Die Titanic am 10. April 1912 in Southampto­n

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