„Der Rechtsstaat erkrankt“
Ezra-statistik vorgestellt: Opfer der Ballstädt-schläger schildern, wie es ihnen heute geht
Erfurt. Sophie wurde Opfer. 2014 in der Dorfidylle von Ballstädt (Landkreis Gotha) gehört sie zu den Personen, die von Rechtsextremisten überfallen und zusammengeschlagen werden. Sieben Jahre später laufen die Täter immer noch frei herum – obwohl sie bereits einmal verurteilt waren. Der Bundesgerichtshof hob den Schuldspruch auf. Formfehler. Sophie vergleicht ihr Empfinden mit der Corona-pandemie: „Ich fühle mich als Patient, der nicht versorgt wird. Und die Auswirkungen auf die Gesellschaft sind zu erkennen: Der Rechtsstaat erkrankt.“Wer muss diese Versorgung leisten? Wie kann sie aussehen? Sie macht keinen Hehl daraus, was sie erwartet. Ein hartes Durchgreifen der Thüringer Justiz und keine Deals, wenn von Rechtsextremisten schwere Gewalttaten begangen werden.
Am Mittwoch hat die Opferberatungsstelle Ezra ihre Jahresstatistik vorgestellt. Das Ballstädt-verfahren wird immer wieder erwähnt. Nicht zuletzt, weil mit Sophie und Martin zwei Betroffene der Taten zugeschaltet sind. 102 Taten mit rechtem, rassistischem oder antisemitischem Hintergrund zählt die Opferberatungsstelle im vergangenen Jahr. Ein Rückgang im Vergleich zum Vorjahr aber insbesondere im Hinblick auf das Jahr 2018, als Ezra noch 167 solcher Taten bekannt geworden sind. „Wir rechnen wieder mit Nachmeldungen“, sagt Projektkoordinator Franz Zobel. 2019 wurden so aus den ursprünglich gemeldeten 108 insgesamt 120 Taten. Regional bleiben die Thüringer
Großstädte Erfurt und Jena die Hotspots. Aus Erfurt wurden 31 und aus Jena 13 Fälle gemeldet, was leichte Rückgänge im Vergleich zum Vorjahr bedeutet.
Auffällig beim Blick in die Regionen: Während 2019 zwölf rechte beziehungsweise rassistische Taten im Landkreis Saalfeld-rudolstadt gemeldet wurden, waren es im vergangenen Jahr noch vier. Anders in Suhl: Dort gab es im Jahr 2019 keine Vorfälle, im Jahr darauf wurden sechs gemeldet.
Insbesondere die Attacken vor der Erfurter Staatskanzlei und auf dem Herrenberg in Erfurt haben es im vergangenen Jahr in die Schlagzeilen geschafft. Aus Sicht von Ezra liegen hier eindeutig rechtsextremistische Motivationen zugrunde, obwohl insbesondere beim Staatskanzlei-überfall die Staatsanwaltschaft ein solches Tatmotiv nicht erkannt haben will. Diese Taten zeigten, sagt Madeleine Henfling, Sprecherin für Antifaschismus der Grünen-landtagsfraktion, dass das Problem rechter Gewalt „trotz sinkender Zahlen erfasster Angriffe nicht geringer wird“. Ähnlich sieht das Katharina König-preuss (Linke). Sie lenkt den Blick auch auf die aktuellen Proteste gegen die Corona-maßnahmen. „Die Corona-proteste selbst sind eine Gefahr für die Menschen, die nicht in das Bild von Antisemiten, Rassisten und extrem Rechten passen“, sagt die Innenpolitikerin. Sie fordert eine erhöhte Aufmerksamkeit von Polizei und Versammlungsbehörden.
Die AFD hingegen bezeichnet die Ezra-mitarbeiter als selbst ernannte „Rächer der Gesellschaft“. Der innenpolitische Sprecher Ringo Mühlmann sagt: „Ich empfinde es als Anmaßung, unseren Thüringer Strafverfolgungsbehörden derartige Vorwürfe zu unterstellen, ohne verifizierbare Beweise vorlegen zu können.“Der Statistik fehle jegliche wissenschaftliche Basis.
Für Sophie, die Opfer der Nazischläger von Ballstädt wurde, muss die ganze Debatte wie Hohn klingen. Ein Richter hat bereits einmal ein Urteil gesprochen, „das sich gerecht angefühlt hat“, sagt sie. Jetzt aber warten sie und die anderen Opfer wieder darauf, ob die Täter überhaupt jemals zur Rechenschaft gezogen werden.