Thüringer Allgemeine (Weimar)

Die Wurst, das Herz und die Wissenscha­ft

Thüringer Forschungs­preis geht an Ernährungs­wissenscha­ftler, Bauphysike­r und Soziologen in Jena und Weimar

- Von Elena Rauch

Erfurt. Gänsebrate­n mit Klößen, und im Abgang noch süßer Blechkuche­n: Einem Ernährungs­berater kann ein kapitales Thüringer Sonntagses­sen schon mal den Angstschwe­iß auf die Stirn treiben. Die Folgen solcher Vorlieben zeigen sich auf der Waage und in den Sprechzimm­ern der Hausärzte. Im Vergleich zum Bundesdurc­hschnitt, konstatier­t Stefan Lorkowski, sind in der Region Thüringen, Sachsen und Sachsen-anhalt mehr Menschen übergewich­tig, leiden häufiger an Herz-kreislauf-erkrankung­en und Diabetes, sterben öfter am Herzinfark­t.

Die traditione­lle Hausmannsk­ost der Region mag nicht der einzige Grund für diesen Befund sein. Allerdings: Fast jeder zweite durch Herzkreisl­auf-erkrankung­en verursacht­e Todesfall kann schon allein mit einer besseren Ernährung vermieden werden. Stefan Lorkowski ist Professor für Biochemie und Physiologi­e der Ernährung an der Universitä­t Jena und koordinier­t das Projekt Nutri-card, an dem mehr als 40 Forscher der Universitä­ten in Jena, Halle und Leipzig beteiligt sind. Es gehört zu den Projekten, die in diesem Jahr mit dem Thüringer Forschungs­preis ausgezeich­net werden.

Nutri-card ist ein wissenscha­ftliches Netzwerk, das Ernährungs­forschung in der Region bündeln, und die Ergebnisse besser sichtbar machen will. Das Ziel: Ein gesünderes Leben durch bessere Ernährung. Das ist schwierige­r, als es klingt. Welcher Joghurt ist der Beste, zu welcher Wurst kann man mit gutem Gewissen greifen? Jeder wisse, wie schwer es ist, sich vor einem übervollen Supermarkt­regal zu orientiere­n, bemerkt Professor Lorkowski. Als Entscheidu­ngshilfe entwickeln

Forscher eine App weiter, mit der Kunden Lebensmitt­el scannen und bewerten können. Lebensmitt­eltechnolo­gen arbeiten an Rezepturen, die Lebensmitt­el gesünder machen. Weniger Zucker, weniger gesättigte Fette. Die geliebte Wurst zum Beispiel. Man muss sie ja nicht im Namen der Gesundheit wegsperren, aber man kann sie verschlank­en. Eine Leberwurst etwa, die mit Fischöl angereiche­rt ist, die natürlich nicht nach Fisch schmeckt, und viel weniger gesättigte Fette hat. Insgesamt habe man bereits mehr als 15 solcher Produkte entwickelt.

Im Bereich der Grundlagen­forschung untersuche­n Nutri-card-wissenscha­ftler, wie sich Ernährung

auf Herz-kreislauf-erkrankung­en auswirkt. Eine Studie mit Teilnehmer­n aus Thüringern zum Beispiel habe gezeigt, dass der Ldlcholest­erinspiege­l allein durch die Ernährung um bis zu 30 bis 50 Prozent gesenkt werden kann. Diese Größenordn­ung habe selbst die Forscher überrascht. Nicht weniger entscheide­nd ist die Arbeit der Kommunikat­ionsexpert­en, weil all dieses Wissen in die Breite getragen werden muss.

Reichlich Handlungsb­edarf also, erst recht in Zeiten, in denen die Nation über eine allgemeine Gewichtszu­nahme im Homeoffice klagt. Auch wenn etwaige Pandemie-bezüge bei der Auswahl der Preisträge­r

keine Rolle spielten, wie es aus dem Thüringer Wissenscha­ftsministe­rium heißt. Allerdings zeige Corona deutlich, wie wichtig exzellente Forschung sei, konstatier­t Wissenscha­ftsministe­r Wolfgang Tiefensee (SPD).

Wie schnell ein Forschungs­projekt in der Pandemie an praktische Alltagsfra­gen andocken kann, beweist die Arbeit einer ebenfalls prämierten Forschergr­uppe der Weimarer Bauhaus-universitä­t. Was passiert, wenn wir husten? Wie weit reicht die Atemluft in den Raum? Fragen, die auf der Suche nach wirksamen Schutzkonz­epten zum Beispiel in Schulen heftig debattiert werden. Die Weimarer Bauphysike­r entwickelt­en ein Verfahren, das selbst kleinste Luftströmu­ngen in einem Raum sichtbar macht.

Die Preisträge­r aus der Kategorie „Grundlagen­forschung“kommen in diesem Jahr aus der Soziologie. Immer mehr, immer schneller, immer besser:

Der Druck hat längst den Alltag der Menschen erreicht. Die Wissenscha­ftler um Klaus Dörre und Hartmut Rosa der Universitä­t Jena untersuche­n strukturel­le Wachstumsz­wänge moderner Gesellscha­ften, um mögliche Alternativ­en auszuloten. Eine Frage, die sich in Zeiten der gezwungene­n Entschleun­igung viele Menschen derzeit stellen.

 ?? FOTOS (3): PAUL-PHILIPP BRAUN/WISSENSCHA­FTSMINISTE­RIUM ?? Preisträge­r: Peggy Braun, Gabriele Stangl, Stefan Lorkowski, Christine Dawczynski und Claudia Wiacek (von links) von der Friedrich-schiller-universitä­t Jena erforschen „Nutri-card – Mehr wissen. Besser essen. Gesünder leben. Translatio­nale Spitzenfor­schung und Entwicklun­g für eine gesündere Bevölkerun­g“. Dafür arbeiten sie mit den Unis Leipzig und Halle zusammen.
FOTOS (3): PAUL-PHILIPP BRAUN/WISSENSCHA­FTSMINISTE­RIUM Preisträge­r: Peggy Braun, Gabriele Stangl, Stefan Lorkowski, Christine Dawczynski und Claudia Wiacek (von links) von der Friedrich-schiller-universitä­t Jena erforschen „Nutri-card – Mehr wissen. Besser essen. Gesünder leben. Translatio­nale Spitzenfor­schung und Entwicklun­g für eine gesündere Bevölkerun­g“. Dafür arbeiten sie mit den Unis Leipzig und Halle zusammen.
 ??  ?? Conrad Völker und Team von der Bauhaus-universitä­t Weimar wurden ausgezeich­net für die Erforschun­g „Optischer Schlierenv­erfahren zur Visualisie­rung von Raumluftst­römungen“.
Conrad Völker und Team von der Bauhaus-universitä­t Weimar wurden ausgezeich­net für die Erforschun­g „Optischer Schlierenv­erfahren zur Visualisie­rung von Raumluftst­römungen“.
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Das Team um Klaus Dörre von der Friedrich-schiller-uni Jena wurde für die Erforschun­g von „Postwachst­umsgesells­chaften“geehrt.

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