„Bundesrecht bricht Landesrecht“
Der Spd-politiker Schneider über neue Infektionsschutz-regeln und die Rolle Thüringens
Erfurt/berlin. Der Thüringer Spdabgeordnete Carsten Schneider war als Parlamentarischer Geschäftsführer der Spd-bundestagsfraktion am Kompromiss mit der Union zum Infektionsschutzgesetz beteiligt. Im Gespräch mit dieser Zeitung verteidigt er den Entwurf, der am Mittwoch vom Bundestag verabschiedet werden soll.
Herr Schneider, Ihr Thüringer Spdlandeschef Georg Maier sagt, dass er als Innenminister Ausgangssperren nicht durchsetzen kann. Warum hören Sie nicht auf ihn?
Die Ausgangsbeschränkungen sollen ja nun erst ab 22 Uhr und für Jogger und Spaziergänger erst ab Mitternacht gelten. Und natürlich können hier Polizei und Ordnungsamt kontrollieren. Ich sehe die Maßnahme aber auch eher als Appell an die Gesellschaft, also an uns alle. In das Impfen kommt jetzt endlich mehr Dynamik rein, damit rückt auch das Ende der Pandemie näher. Deshalb dürfen wir die damit verbundene Perspektive des Rückgewinns unseres normalen Lebens jetzt nicht verstolpern.
Aber sagen nicht alle Forschungsergebnisse, dass man sich im Freien kaum anstecken kann?
Die Ausgangsbeschränkung soll ja auch nicht dazu führen, dass sich die Menschen nicht mehr draußen aufhalten, sondern dazu, dass sich an den Abenden die Menschen nicht privat in Innenräumen treffen. Wir wollen vielmehr – jenseits der späten Abende – die Leute dazu animieren, sich an der frischen Luft aufzuhalten. Deshalb regeln wir zum Beispiel, dass Kinder in kleinen Gruppen draußen Sport treiben können. Ich bin selbst in einem kleinen Zimmer in der Platte aufgewachsen und weiß, wie wichtig Sport und Bewegung sind.
Wird die Ausgangssperre vor der Verfassung Bestand haben?
Jetzt ist meiner Meinung nicht die Zeit für juristische Auseinandersetzungen. Aber natürlich hat jeder das Recht zu klagen, auch die Fdp-bundestagsfraktion. Ich glaube aber nicht, dass eine Beschwerde Erfolg hätte. Wir orientieren uns stark an der Regelung von Hamburg, die obergerichtlich bestätigt wurde. Wichtig für uns als SPD ist, dass wir die Arbeitgeber stärker an die Kandare nehmen, mit einer gesetzlichen Homeoffice-regelung und der Pflicht, mindestens zwei Tests die Woche anzubieten – und dies unabhängig von der Inzidenz. Die Gesundheit der Beschäftigten ist wichtiger als das Profitinteresse der Wirtschaft.
Abhängig von der Sieben-tage-inzidenz sind die Schulen: Sie wollen ab dem Wert 165 Präsenzunterricht verbieten. Warum?
Um die Kinder, aber auch die Lehrer, Eltern und Großeltern gerade angesichts der Mutation zu schützen. Unterhalb von 70 Jahren ist immer noch die große Mehrheit der Menschen nicht geimpft. Außerdem muss es endlich Verbindlichkeit und Verlässlichkeit geben. Ein Flickenteppich in Deutschland oder wie in Thüringen, wo ein Landkreis so entscheidet und ein anderer Landkreis so, produziert nur Verwirrung und beschädigt das Vertrauen in die Politik.
Aber warum die Inzidenz von 165?
Das ist die aktuelle Inzidenz im
Bundesdurchschnitt – und natürlich ein Kompromiss. Es gab viele Forderungen nach strengeren Grenzwerten, aber auch das Gegenteil davon. Am Ende haben wir uns in der Mitte getroffen. Was uns aber eint: Wir wollen, dass die Schulen als Letztes geschlossen und als Erstes geöffnet werden, das sind wir den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien schuldig.
Das wird aber nichts daran ändern, dass viele Schüler endgültig den Anschluss verlieren.
Die Sorge ist absolut berechtig. Wir stellen deshalb kurzfristig zusätzlich im Nachtragsetat zwei Milliarden Euro für Nachhilfe und Schulsozialarbeit bereit, denn die Schwächsten haben es in dieser Krise am schwersten.
Wenn Bundestag und Bundesrat zustimmen: Gilt das Bundesgesetz unmittelbar und sofort, hebelt also die gültige Landesverordnung des Landes aus?
Bundesrecht bricht Landesrecht. Das heißt, dass an den Stellen, wo das Bundesgesetz schärfer als die Landesverordnung ist, auch das Bundesgesetz gilt – und zwar sofort nach der Verkündung. Thüringen steht es natürlich frei, darüber hinaus zu gehen. Es kann aber nicht eigenständig lockern.
Das heißt, der Bund entmachtet die Länder?
Nein. Erstens können die Länder im Bundesrat dem Gesetz zustimmen oder nicht. Zweitens gelten diese Änderungen ausdrücklich nur bis Ende Juni, es kann ohne Bundestag und Bundesrat nicht verlängert werden. Und drittens hatten die Länder nun wirklich ihre Chance. Wir haben vor Ostern leider eine Ministerpräsidentenkonferenz erlebt, die vom Kanzleramt schlecht vorbereitet war und die sich auf nichts mehr einigen konnte. Danach kamen lauter Protokollerklärungen, Schlupflöcher und Öffnungsmodelle wie im Saarland, aber auch in Thüringen.
An der hiesigen Landesregierung ist Ihre SPD beteiligt. Vergessen?
Natürlich nicht. Ich hätte mir gewünscht, dass alle Mitglieder der Landesregierung ihre ganze Kraft dafür aufgewendet hätten, die Infektionszahlen zu senken. Stattdessen wurde wertvolle Zeit mit dem Erstellen von den zum damaligen Zeitpunkt illusorischen Stufenplänen verplempert. Das erratische Handeln an der Spitze der Landesregierung und insbesondere im Bildungsministerium hat das Erscheinungsbild der Landesregierung bestimmt. Es zeigt sich außerdem, dass mit einer verantwortungslosen Opposition aus CDU und FDP kein Staat zu machen ist. Dass Thüringen seit drei Monaten die höchste Corona-inzidenz hat und zum Negativ-beispiel in Deutschland wurde, lässt sich schon lange nicht mehr mit höherer Gewalt erklären.
In ihrer Heimatstadt Erfurt wird am Freitag die Bundesgartenschau eröffnet. Was halten Sie davon?
Ich sehe das mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite sollten alle Außenanlagen für die Einheimischen offen sein, unter den bekannten und eingeübten Auflagen. Auf der anderen Seite muss in den nächsten beiden Monaten jeder Gartenschau-tourismus in die Stadt vermieden werden. Ich hoffe sehr, dass diese Balance gefunden wird.