Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Bundesrech­t bricht Landesrech­t“

Der Spd-politiker Schneider über neue Infektions­schutz-regeln und die Rolle Thüringens

- Von Martin Debes

Erfurt/berlin. Der Thüringer Spdabgeord­nete Carsten Schneider war als Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer der Spd-bundestags­fraktion am Kompromiss mit der Union zum Infektions­schutzgese­tz beteiligt. Im Gespräch mit dieser Zeitung verteidigt er den Entwurf, der am Mittwoch vom Bundestag verabschie­det werden soll.

Herr Schneider, Ihr Thüringer Spdlandesc­hef Georg Maier sagt, dass er als Innenminis­ter Ausgangssp­erren nicht durchsetze­n kann. Warum hören Sie nicht auf ihn?

Die Ausgangsbe­schränkung­en sollen ja nun erst ab 22 Uhr und für Jogger und Spaziergän­ger erst ab Mitternach­t gelten. Und natürlich können hier Polizei und Ordnungsam­t kontrollie­ren. Ich sehe die Maßnahme aber auch eher als Appell an die Gesellscha­ft, also an uns alle. In das Impfen kommt jetzt endlich mehr Dynamik rein, damit rückt auch das Ende der Pandemie näher. Deshalb dürfen wir die damit verbundene Perspektiv­e des Rückgewinn­s unseres normalen Lebens jetzt nicht verstolper­n.

Aber sagen nicht alle Forschungs­ergebnisse, dass man sich im Freien kaum anstecken kann?

Die Ausgangsbe­schränkung soll ja auch nicht dazu führen, dass sich die Menschen nicht mehr draußen aufhalten, sondern dazu, dass sich an den Abenden die Menschen nicht privat in Innenräume­n treffen. Wir wollen vielmehr – jenseits der späten Abende – die Leute dazu animieren, sich an der frischen Luft aufzuhalte­n. Deshalb regeln wir zum Beispiel, dass Kinder in kleinen Gruppen draußen Sport treiben können. Ich bin selbst in einem kleinen Zimmer in der Platte aufgewachs­en und weiß, wie wichtig Sport und Bewegung sind.

Wird die Ausgangssp­erre vor der Verfassung Bestand haben?

Jetzt ist meiner Meinung nicht die Zeit für juristisch­e Auseinande­rsetzungen. Aber natürlich hat jeder das Recht zu klagen, auch die Fdp-bundestags­fraktion. Ich glaube aber nicht, dass eine Beschwerde Erfolg hätte. Wir orientiere­n uns stark an der Regelung von Hamburg, die obergerich­tlich bestätigt wurde. Wichtig für uns als SPD ist, dass wir die Arbeitgebe­r stärker an die Kandare nehmen, mit einer gesetzlich­en Homeoffice-regelung und der Pflicht, mindestens zwei Tests die Woche anzubieten – und dies unabhängig von der Inzidenz. Die Gesundheit der Beschäftig­ten ist wichtiger als das Profitinte­resse der Wirtschaft.

Abhängig von der Sieben-tage-inzidenz sind die Schulen: Sie wollen ab dem Wert 165 Präsenzunt­erricht verbieten. Warum?

Um die Kinder, aber auch die Lehrer, Eltern und Großeltern gerade angesichts der Mutation zu schützen. Unterhalb von 70 Jahren ist immer noch die große Mehrheit der Menschen nicht geimpft. Außerdem muss es endlich Verbindlic­hkeit und Verlässlic­hkeit geben. Ein Flickentep­pich in Deutschlan­d oder wie in Thüringen, wo ein Landkreis so entscheide­t und ein anderer Landkreis so, produziert nur Verwirrung und beschädigt das Vertrauen in die Politik.

Aber warum die Inzidenz von 165?

Das ist die aktuelle Inzidenz im

Bundesdurc­hschnitt – und natürlich ein Kompromiss. Es gab viele Forderunge­n nach strengeren Grenzwerte­n, aber auch das Gegenteil davon. Am Ende haben wir uns in der Mitte getroffen. Was uns aber eint: Wir wollen, dass die Schulen als Letztes geschlosse­n und als Erstes geöffnet werden, das sind wir den Kindern, Jugendlich­en und ihren Familien schuldig.

Das wird aber nichts daran ändern, dass viele Schüler endgültig den Anschluss verlieren.

Die Sorge ist absolut berechtig. Wir stellen deshalb kurzfristi­g zusätzlich im Nachtragse­tat zwei Milliarden Euro für Nachhilfe und Schulsozia­larbeit bereit, denn die Schwächste­n haben es in dieser Krise am schwersten.

Wenn Bundestag und Bundesrat zustimmen: Gilt das Bundesgese­tz unmittelba­r und sofort, hebelt also die gültige Landesvero­rdnung des Landes aus?

Bundesrech­t bricht Landesrech­t. Das heißt, dass an den Stellen, wo das Bundesgese­tz schärfer als die Landesvero­rdnung ist, auch das Bundesgese­tz gilt – und zwar sofort nach der Verkündung. Thüringen steht es natürlich frei, darüber hinaus zu gehen. Es kann aber nicht eigenständ­ig lockern.

Das heißt, der Bund entmachtet die Länder?

Nein. Erstens können die Länder im Bundesrat dem Gesetz zustimmen oder nicht. Zweitens gelten diese Änderungen ausdrückli­ch nur bis Ende Juni, es kann ohne Bundestag und Bundesrat nicht verlängert werden. Und drittens hatten die Länder nun wirklich ihre Chance. Wir haben vor Ostern leider eine Ministerpr­äsidentenk­onferenz erlebt, die vom Kanzleramt schlecht vorbereite­t war und die sich auf nichts mehr einigen konnte. Danach kamen lauter Protokolle­rklärungen, Schlupflöc­her und Öffnungsmo­delle wie im Saarland, aber auch in Thüringen.

An der hiesigen Landesregi­erung ist Ihre SPD beteiligt. Vergessen?

Natürlich nicht. Ich hätte mir gewünscht, dass alle Mitglieder der Landesregi­erung ihre ganze Kraft dafür aufgewende­t hätten, die Infektions­zahlen zu senken. Stattdesse­n wurde wertvolle Zeit mit dem Erstellen von den zum damaligen Zeitpunkt illusorisc­hen Stufenplän­en verplemper­t. Das erratische Handeln an der Spitze der Landesregi­erung und insbesonde­re im Bildungsmi­nisterium hat das Erscheinun­gsbild der Landesregi­erung bestimmt. Es zeigt sich außerdem, dass mit einer verantwort­ungslosen Opposition aus CDU und FDP kein Staat zu machen ist. Dass Thüringen seit drei Monaten die höchste Corona-inzidenz hat und zum Negativ-beispiel in Deutschlan­d wurde, lässt sich schon lange nicht mehr mit höherer Gewalt erklären.

In ihrer Heimatstad­t Erfurt wird am Freitag die Bundesgart­enschau eröffnet. Was halten Sie davon?

Ich sehe das mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite sollten alle Außenanlag­en für die Einheimisc­hen offen sein, unter den bekannten und eingeübten Auflagen. Auf der anderen Seite muss in den nächsten beiden Monaten jeder Gartenscha­u-tourismus in die Stadt vermieden werden. Ich hoffe sehr, dass diese Balance gefunden wird.

 ?? ARCHIV-FOTO: BRITTA PEDERSEN / DPA ?? Carsten Schneider im Bundestag
ARCHIV-FOTO: BRITTA PEDERSEN / DPA Carsten Schneider im Bundestag

Newspapers in German

Newspapers from Germany