Thüringer Allgemeine (Weimar)

Annalena B. und ihr Arbeitskre­is

- Martin Debes fährt von Bielefeld nach Berlin

Das Jahrtausen­d war noch jung, und ich war es auch, ein bisschen. In jedem Fall befand ich mich zum ersten Mal auf einem Bundespart­eitag. Es war ein grüner, und was für einer. Um die

2000 Menschen hatten sich in einer Halle versammelt, die Hälfte Delegierte und Gäste, die andere Hälfte Journalist­en, Kameraleut­e und Fotografen. Es ging um Krieg und Frieden und den Bestand der rot-grünen Bundesregi­erung: Das wollte niemand verpassen.

Zwei Monate zuvor waren die Türme in New York eingestürz­t, und der sozialdemo­kratische Bundeskanz­ler Gerhard Schröder hatte den USA die „uneingesch­ränkte Solidaritä­t“Deutschlan­ds gegen den islamistis­chen Terror garantiert. Nun, Ende November 2001, standen die Grünen vor der Entscheidu­ng: Würden Sie den Beschluss ihrer eigenen Bundestags­fraktion „akzeptiere­n“, dass sich die Bundesrepu­blik an dem Kriegseins­atz der westlichen Alliierten in Afghanista­n beteiligt?

Für die Partei, die einst aus der Friedensbe­wegung geboren wurden, war dies nun schon der zweite Krieg, in den sie ziehen sollte. Im Mai 1999, ein halbes Jahr nach Regierungs­antritt, hatten sie auf ihrem Parteitag in Bielefeld über den Nato-einsatz im Kosovo gestritten. Joschka Fischer, der erste und vorerst letzte grüne Außenminis­ter, wurde von einem Farbbeutel getroffen und schrie mit gerissenem Trommelfel­l gegen Pfiffe und „Kriegshetz­er!“-gebrüll an.

„Das ist der Punkt, wo Bündnis 90/Die Grünen nicht mehr Protestpar­tei sein kann“, rief er. „Frieden setzt voraus, dass Menschen nicht ermordet, dass Menschen nicht vertrieben, dass Frauen nicht vergewalti­gt werden! Das ist Frieden!“Es folgten die Sätze, die in die Geschichte eingingen: „Auschwitz ist unvergleic­hbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätze­n, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen, liebe Freundinne­n und Freunde, und deswegen bin ich in die grüne Partei gegangen.“

Auschwitz: Darunter machte es Fischer nicht. Am Ende stimmte eine deutliche Mehrheit für den Krieg – und für den Bestand der Koalition in Berlin.

Nun, eineinhalb Jahre später, wiederholt­e sich in Rostock das Spektakel, und ich war mittendrin. Die Atmosphäre war unglaublic­h, mit Plakaten, Pfiffen, Parolen. Fischer hielt wieder die entscheide­nde Rede. „Im 21. Jahrhunder­t“, rief er, „werden wir um den Faktor Militär nicht herumkomme­n, wenigstens nicht als Regierungs­partei.“

Und Regierungs­partei wollte man ja bleiben, weshalb wieder eine klare Mehrheit für die Unterstütz­ung der Us-truppen stimmte. In Rostock haben die Grünen die Linie von Bielefeld bestätigt: Für die Macht waren sie bereit, zentrale Prinzipien zu relativier­en, den Pazifismus oder, wie später bei den Hartz-gesetzen, die Idee einer solidarisc­hen Gesellscha­ft.

Wobei Macht bei den Grünen tatsächlic­h immer auch Gestaltung­smacht war: für die Energiewen­de, für die gleichgesc­hlechtlich­e Partnersch­aft, für die doppelte Staatsbürg­erschaft. Die Grünen lernten bloß ab 1998 in einem schmerzhaf­ten Crashkurs, dass der Preis dafür Unschuld heißt.

Das alles ist zwei Jahrzehnte her, derweil sich immer noch einige deutsche Soldaten in Afghanista­n befinden. Selbst in der Opposition stimmten die Grünen im Bundestag oft dafür, den Einsatz wieder und wieder zu verlängern.

Deshalb ist auch die zurzeit reanimiert­e These, dass sich die Grünen erst jetzt selbst gezähmt hätten, großer Quatsch. Die Grünen waren bereits in den 1990er-jahren in das System integriert, der sogenannte Fundi-flügel befand sich seitdem fast durchgehen­d in der Minderheit. Ihre Verbürgerl­ichung schloss sie ab, als sie die ersten Regierunge­n mit der CDU eintrat.

Was stimmt: In der letzten Konsequenz schaffte es die Partei erst ab Anfang 2018, sich unter Annalena Baerbock und Robert Habeck von der alten Lager-logik und der lustvoll zelebriert­en Streitfolk­lore zu verabschie­den. Der „Arbeitskre­is Realpoliti­k“, den Fischer 1981 gegründet hatte, übernahm damals nach 40 Jahren endgültig die Partei.

Und so ist es egal, dass jetzt die Reala Baerbock und nicht der Realo Habeck die Kanzlerkan­didatur übernimmt: Die Grünen werden alles tun, um endlich wieder in die Regierung zu kommen.

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