„Ich will das Land entfesseln“
Die erst 40 Jahre alte Parteichefin Annalena Baerbock wird Kanzlerkandidatin der Grünen
Berlin. Im historischen Moment nimmt Annalena Baerbock erst einmal einen großen Schluck Wasser. „Schönen guten Tag, auch von meiner Seite“, sagt die 40-Jährige dann mit einem breiten Grinsen. Sie ist die erste Kanzlerkandidatin, die die Grünen jemals aufgestellt haben. Eine Frau ohne Regierungserfahrung, die im Herbst das große Erbe von Angela Merkel antreten will. Eine Frau, die einen neuen Politikstil in der Republik etablieren will, der sich abheben soll von der epischen Schlammschlacht der beiden Alphatiere Markus Söder und Armin Laschet im Ringen um die Kanzlerkandidatur von CDU und CSU.
„Ich habe große Demut und großen Respekt vor dieser Aufgabe.“
Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin
Will“, die Geschlechterfrage werde eben nicht entscheiden.
So oder so zeigt sich der Flensburger als guter Verlierer: „Wir beide wollten es, aber am Ende kann es nur eine geben.“Er wolle seine Ministererfahrung aus Schleswig-holstein in Koalitionsverhandlungen einbringen und so das Beste für die Grünen herausholen. Habeck traut sich Finanzminister zu.
Dann gehört der Frau der Stunde die kleine Bühne in einer ehemaligen Berliner Malzfabrik. Eingerahmt von großen Porträtbildern, auf denen ausnahmslos Frauen und Kinder im Fokus stehen, spricht sie die Achillesferse ihrer Kandidatur offensiv an: „Ich war noch nie Kanzlerin, auch nicht Ministerin.“Als Merkel mit 51 an die Macht kam, brachte sie acht Jahre als Frauenund Umweltministerin von Helmut Kohl mit.
Sie wolle für ein neues Verständnis politischer Führung stehen, „lernfähig und selbstkritisch“sein, erklärt Baerbock. „Ja, ich habe große Demut und großen Respekt vor dieser Aufgabe.“Angst ist der früheren Leistungssportlerin fremd. Schaffe sie es ins Kanzleramt, wolle sie bei aller benötigten Härte „menschlich und empathisch“bleiben. Die Grünen sind geschlossen wie nie. Die Chefs reden öffentlich nie schlecht übereinander, teilen sich ein Büro und Mitarbeiter. Keiner überrumpelt den anderen mit Alleingängen.
Lässt sich dieser uneitle Modus durchhalten? Jetzt werden alle Kameras auf Baerbock gerichtet sein. Dabei braucht Habeck das Rampenlicht als emotionalen Treibstoff für seine politischen Visionen. Wie werden sie mit dieser Reibung umgehen, die etwa im Spd-wahlkampf 2013 zwischen Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel zu Zerwürfnissen führte? Die anderen Parteien werden Baerbock kaum schonen, auf ihre mangelnde Führungserfahrung verweisen. Die Wählerinnen und Wähler werden rechtzeitig wissen wollen, wie teuer mehr Klimaschutz wird, wie sicher Arbeitsplätze in fossilen Industriezweigen mit den Grünen noch sein werden.
Baerbock jedenfalls lässt keinen Zweifel daran, dass Klimaschutz im Zentrum ihrer Bewerbung für das Kanzleramt steht. Am Montag erinnert die Umweltexpertin der Fraktion daran, wie sie vor fünf Jahren live beim Abschluss des Pariser Klimaabkommens
in der französischen Hauptstadt dabei gewesen sei. Der damalige französische Außenminister Laurent Fabius habe als Konferenzleiter den Holzhammer geschwungen, Delegierte aus 194 Ländern hätten sich mit Tränen in den Augen umarmt.
„Ich stand in diesem ganzen Getose, meine sechs Monate alte Tochter im Kinderwagen neben mir“, erzählt sie. Im Jahr 2050, dem Zieldatum der Pariser Verträge zur Eindämmung der Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad gemessen am vorindustriellen Zeitalter, werde ihre Tochter 35 sein. „Dann wird sie vielleicht auch Kinder haben, bin ich Großmutter, dann werden wir klimagerechten Wohlstand geschaffen haben müssen.“Klimaschutz sei die Aufgabe ihrer Generation. Dabei werfen Kritiker den Grünen längst vor, in der Klimapolitik genügsam, zu wenig radikal geworden zu sein, um bürgerliche Wähler und Industrie nicht zu verschrecken. So entstanden bereits konkurrierende regionale „Klimalisten“. Baerbock ficht das nicht an. Sie will ein Angebot für die ganze Gesellschaft sein: „Ich will das Land entfesseln.“