Unterwegs in die vierte Dimension
Uni Jena will kulturelles Erbe erlebbar machen und Gäste auf Zeitreise schicken
Jena. Angenommen, sagt Sander Münster, wir stellen uns auf den Eichplatz in Jena und könnten 100 Jahre zurückspringen. Was würden wir sehen? Eine Häuserreihe mit Geschäften, eine Eiche, kein einziges geparktes Auto, nicht einmal ein Parkscheinautomat. Dafür das Burschenschaftsdenkmal von Adolf Donndorf, es zog erst 1951 vor das Hauptgebäude der Universität um. Wenn man auf dem Zeitstrahl unter dem Computerbild nach vorn fährt, kann man die Veränderungen beobachten. Natürlich könnte man in Gedanken auch 600 Jahre und länger zurückreisen und seine Vorstellungskraft bemühen. Aber diese Bilder, die einen Eindruck des historischen Jena aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermitteln sollen, sind keine Phantasie, sondern beruhen auf Fotografien, Stadtplänen und anderen Dokumenten. Fast als würde man mittendrin stehen, wenn man sich zum Beispiel eine Vr-brille aufsetzt, denn auch das wäre vorstellbar.
Urlaubsregionen nehmen an Pilotprojekt teil
Sander Münster ist Juniorprofessor für Digital Humanities an der Universität Jena und die Zeitreise über Jenas größten Platz demonstriert die Potenziale eines europäischen Netzwerks, das im Januar an den Start ging und von der EU gefördert wird: Virtual and Smart Cultural Tourism (virtueller und smarter Kulturtourismus). Zunächst ausgelegt auf ein Jahr sind derzeit klassische Urlaubsregionen in sechs europäischen Ländern dabei, in Deutschland sind es Sachsen und Thüringen, außerdem das spanische Galizien, Paris, Zypern, Niederösterreich und der Großraum Amsterdam.
Regionen mit einem reichen kulturellen Erbe und einer spannenden Geschichte. Davon erzählen Daten, Abbildungen, Geschichten. Immer mehr Museen digitalisieren ihre Bestände, und machen sie damit auch aus der Ferne erlebbar. Thüringen, bemerkt der Professor, gehöre dabei zu den Vorreitern. Die besondere Crux für ihn und sein Team besteht darin, solche Informationen erlebbar zu machen. Handhabbare digitale Werkzeuge zu entwickeln, die zum Beispiel aus einzelnen Bildern, Fotografien und historischen Stadtplänen eine 4D-präsentation ermöglichen. Die mit vertiefenden Fakten, historischen Ereignissen, Querverbindungen und Menschengeschichten verbunden werden. Die technischen Möglichkeiten der Moderne erwecken Vergangenheit zum Leben. Zurück in die Zukunft?
700 Institutionen aus 34 Ländern sind beteiligt
Marty Mcfly und Doc Brown brauchten für ihre Zeitreise den Fluxkompensator. Sander Münster und sein wissenschaftliches Team nutzen für ihre Zeitreisen digitale Anwendungen digitalisierter Daten. Und je mehr davon es gibt, desto schärfer wird das Bild von der Vergangenheit.
Urlaubsregionen könnten sich auf einer gemeinsamen Plattform präsentieren, eine stärkere Wahrnehmung wäre für Thüringen schon mal ein großer Gewinn. Touristiker hätten digitale Werkzeuge, um zum Beispiel thematische Stadtführungen zu entwickeln.
Ein Spaziergang durch Weimars Straßen, wie Goethe sie auf dem Weg zu Schiller sah? Ein Streifzug durch Erfurts mittelalterliches jüdisches Viertel? Alles denkbar. Ob vor Ort mit dem Smartphone in der
Hand oder zu Hause auf dem Tablet. Museen könnten von den Möglichkeiten profitieren und sich für die Entwicklung digitaler Formate beraten lassen.
Professor Münster leitet nicht nur dieses Netzwerk in Jena. Er ist Generalsekretär eines europäischen Großprojekts mit dem futuristisch anmutenden Namen „Time Machine“. Das Jenaer Projekt, bemerkt der Wissenschaftler, ist ein Rädchen im Getriebe dieser „Zeitmaschine“. Etwa 700 Institutionen aus 34 Ländern sind beteiligt. Die Vision: Mittels schneller Digitalisierungsverfahren soll historisches Wissen erfasst und für Nutzer räumlich und zeitlich erlebbar gemacht werden. Ähnlich wie bei Googleearth, wo sich der Nutzer per Mausklick an jeden Punkt der Erde begeben kann, soll man quer durch die Geschichte Europas reisen können.
Nach Florenz zum Beispiel, wo in den Uffizien Botticellis „Geburt der Venus“hängt. Man könnte vom heimischen Sofa aus durch das Florenz des 15. Jahrhunderts spazieren, vielleicht einen Blick in Botticellis Werkstatt werfen…
Ein verlockender Gedanke. Und in Zeiten, in denen Corona das wirkliche Reisen ausbremst, auch ein melancholischer. Ach Florenz! Am Ende geht nichts über das Original.