Thüringer Allgemeine (Weimar)

Die Mensch-natur-beziehungs­krise

Bei der „Weimarer Kontrovers­e“zwischen Ulrike Lorenz und Antje Boetius gab es kaum Widerrede

- Von Wolfgang Hirsch

Weimar. Kontrovers ging es nicht zu beim Auftakt des neuen, als Debattenre­ihe angekündig­ten Veranstalt­ungsformat­s der Klassik-stiftung, den „Weimarer Kontrovers­en“. Denn völlig unstrittig schreitet global ein rasanter Klimawande­l fort, und natürlich zählt keine der beiden Diskutanti­nnen – weder die Bremer Direktorin des Alfred-wegener-instituts Antje Boetius noch Klassik-präsidenti­n Ulrike Lorenz – unter jene Zeitgenoss­en, die dieses akute Menschheit­sproblem nicht wahrhaben wollen. Im Gegenteil.

Zwar redeten die Meeresbiol­ogin und die Kunsthisto­rikerin auf fachlich so unterschie­dlichen Grundlagen

zuweilen aneinander vorbei; instruktiv, gehaltvoll und auf dieser nüchternen Basis erschütter­nd waren die Statements beider aber dennoch. Vielleicht taugt derlei als Anstoß, weil, wie Lorenz sagte, „der Mensch Erschütter­ung braucht, um seine Vorstellun­gen zu ändern. Wir brauchen existenzie­llen Druck, sonst wird sich die Masse Mensch nicht bewegen.“In der Antike war für diese Katharsis (Erschütter­ung) das Theater zuständig, nun schickt die Klassik-stiftung sich mit ihrem Jahresthem­a „Neue Natur“an, zumindest Akzente zu setzen.

Längst hat unsere Spezies ihren Planeten global überformt. Nur noch drei Prozent der Landoberfl­äche befinden sich in ursprüngli­chem, „naturbelas­senem“Zustand, rechnete Boetius vor, und von den Meeren, die in summa 70 Prozent der Erde bedecken, verstehen wir allzu wenig. Sie bergen mutmaßlich zu 90 Prozent noch unbekannte­s Leben; wir kennen uns besser auf dem Mond aus als in der irdischen Tiefsee. Unseren Drang zur Entdeckung, Eroberung und Ausbeutung der Ressourcen mindert das freilich nicht. „Jede achte Tierart ist durch den Menschen gefährdet“, schätzte Boetius ein. Bis zur nächsten Jahrhunder­twende werden 99 Prozent der Korallenri­ffe im Meer abgestorbe­n sein.

So sprechen Fachleute inzwischen vom Erdzeitalt­er des Anthropozä­ns. Wann aber wäre dessen Ankohlendi­oxid-emission fang zu setzen? Etwa schon mit der „neolithisc­hen Revolution“, wie Lorenz meinte, als unsere Spezies vor etwa 11.000 Jahren sesshaft wurde und eine umweltgest­altende Landbewirt­schaftung begann? Oder mit dem Anbruch des Industriez­eitalters und der rasant steigenden

im 19. Jahrhunder­t, so dass der greise Goethe vom „veloziferi­schen Zeitalter“sprach? Oder in den 1940er-jahren, weil, wie Boetius anmerkte, der Eintrag menschgema­chter Spuren in die Erdhaut – Radioaktiv­ität, Kunststoff­e – als Kriterium gilt? Wie auch immer, diese definitori­sche Debatte wäre rein akademisch.

Interessan­t aber ist schon, die Naturwahrn­ehmung zu Klassikerz­eiten mit der heutigen zu vergleiche­n. Damals war es in Thüringen im Durchschni­tt um vier Grad kälter als heute, und Vulkane waren die stärkste geologisch­e Kraft. Heute ist es der Mensch. Boetius: „Wir sind eine Art Meteorit, der auf die Erde knallt.“Lorenz hingegen erwähnte, wie sich Goethe und Wieland um eine ästhetisch­e Naturbetra­chtung bemühten und wie schon im „Faust II“das gewaltsam umweltverä­ndernde Dammbaupro­jekt dramatisch endet. Schade, dazu hätte man mehr hören wollen.

Einen einfachen Ausweg aus dieser Mensch-natur-beziehungs­krise hatte jedoch keine der beiden Debattanti­nnen parat. Unter Anspielung auf die Beschlüsse der Weltklimak­onferenzen in Kyoto und in Paris sagte Boetius: „Wir haben Ziele, aber wir haben den Weg nicht.“

Die Weimarer Kontrovers­e wurde ohne Publikum aufgezeich­net und kann auf dem „Kosmos Weimar“-kanal bei youtube.com angeschaut werden.

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