Die Mensch-natur-beziehungskrise
Bei der „Weimarer Kontroverse“zwischen Ulrike Lorenz und Antje Boetius gab es kaum Widerrede
Weimar. Kontrovers ging es nicht zu beim Auftakt des neuen, als Debattenreihe angekündigten Veranstaltungsformats der Klassik-stiftung, den „Weimarer Kontroversen“. Denn völlig unstrittig schreitet global ein rasanter Klimawandel fort, und natürlich zählt keine der beiden Diskutantinnen – weder die Bremer Direktorin des Alfred-wegener-instituts Antje Boetius noch Klassik-präsidentin Ulrike Lorenz – unter jene Zeitgenossen, die dieses akute Menschheitsproblem nicht wahrhaben wollen. Im Gegenteil.
Zwar redeten die Meeresbiologin und die Kunsthistorikerin auf fachlich so unterschiedlichen Grundlagen
zuweilen aneinander vorbei; instruktiv, gehaltvoll und auf dieser nüchternen Basis erschütternd waren die Statements beider aber dennoch. Vielleicht taugt derlei als Anstoß, weil, wie Lorenz sagte, „der Mensch Erschütterung braucht, um seine Vorstellungen zu ändern. Wir brauchen existenziellen Druck, sonst wird sich die Masse Mensch nicht bewegen.“In der Antike war für diese Katharsis (Erschütterung) das Theater zuständig, nun schickt die Klassik-stiftung sich mit ihrem Jahresthema „Neue Natur“an, zumindest Akzente zu setzen.
Längst hat unsere Spezies ihren Planeten global überformt. Nur noch drei Prozent der Landoberfläche befinden sich in ursprünglichem, „naturbelassenem“Zustand, rechnete Boetius vor, und von den Meeren, die in summa 70 Prozent der Erde bedecken, verstehen wir allzu wenig. Sie bergen mutmaßlich zu 90 Prozent noch unbekanntes Leben; wir kennen uns besser auf dem Mond aus als in der irdischen Tiefsee. Unseren Drang zur Entdeckung, Eroberung und Ausbeutung der Ressourcen mindert das freilich nicht. „Jede achte Tierart ist durch den Menschen gefährdet“, schätzte Boetius ein. Bis zur nächsten Jahrhundertwende werden 99 Prozent der Korallenriffe im Meer abgestorben sein.
So sprechen Fachleute inzwischen vom Erdzeitalter des Anthropozäns. Wann aber wäre dessen Ankohlendioxid-emission fang zu setzen? Etwa schon mit der „neolithischen Revolution“, wie Lorenz meinte, als unsere Spezies vor etwa 11.000 Jahren sesshaft wurde und eine umweltgestaltende Landbewirtschaftung begann? Oder mit dem Anbruch des Industriezeitalters und der rasant steigenden
im 19. Jahrhundert, so dass der greise Goethe vom „veloziferischen Zeitalter“sprach? Oder in den 1940er-jahren, weil, wie Boetius anmerkte, der Eintrag menschgemachter Spuren in die Erdhaut – Radioaktivität, Kunststoffe – als Kriterium gilt? Wie auch immer, diese definitorische Debatte wäre rein akademisch.
Interessant aber ist schon, die Naturwahrnehmung zu Klassikerzeiten mit der heutigen zu vergleichen. Damals war es in Thüringen im Durchschnitt um vier Grad kälter als heute, und Vulkane waren die stärkste geologische Kraft. Heute ist es der Mensch. Boetius: „Wir sind eine Art Meteorit, der auf die Erde knallt.“Lorenz hingegen erwähnte, wie sich Goethe und Wieland um eine ästhetische Naturbetrachtung bemühten und wie schon im „Faust II“das gewaltsam umweltverändernde Dammbauprojekt dramatisch endet. Schade, dazu hätte man mehr hören wollen.
Einen einfachen Ausweg aus dieser Mensch-natur-beziehungskrise hatte jedoch keine der beiden Debattantinnen parat. Unter Anspielung auf die Beschlüsse der Weltklimakonferenzen in Kyoto und in Paris sagte Boetius: „Wir haben Ziele, aber wir haben den Weg nicht.“
Die Weimarer Kontroverse wurde ohne Publikum aufgezeichnet und kann auf dem „Kosmos Weimar“-kanal bei youtube.com angeschaut werden.