Thüringer Allgemeine (Weimar)

Diabetes und Essstörung – ein Teufelskre­is

Viele junge Patientinn­en spritzen absichtlic­h kein Insulin, um ihr Gewicht zu halten. Das ist lebensgefä­hrlich

- Von Elisabeth Krafft

Berlin. Jasmin Müller aß oft den ganzen Tag über, manchmal sogar nachts. Nicht drei bis fünf Mahlzeiten, wie es Ernährungs­expertinne­n und -experten empfehlen, sondern zehn bis 20. Am liebsten Joghurt, Würstchen oder Nutella direkt aus dem Glas. In ihren Hochphasen verzehrte sie pro Tag 3000 bis 5000 Kilokalori­en. Trotz allem blieb Müller schlank, nahm sogar ab.

Die junge Frau war keine Leistungss­portlerin, die stundenlan­ges Training mit üppigen Mahlzeiten ausglich. Sie erbrach sich auch nicht, nachdem sie 30 Spiegeleie­r gegessen hatte. Müller ist Typ-1-diabetiker­in. Und hatte herausgefu­nden, dass sie essen konnte, so viel sie wollte, solange sie das Insulin wegließ. Dass sie eine Essstörung entwickelt hatte, die ihr Leben bedrohte, wusste sie lange Zeit nicht.

Das Krankheits­bild wird auch als Diabulimie bezeichnet. Der Begriff ist eine Wortkombin­ation aus Diabetes Typ 1 und Bulimie. Betroffene haben Angst, durch regelmäßig­e Insulingab­en zuzunehmen. Im Gegensatz zur Bulimie, auch Essbrechsu­cht genannt, übergeben sich Betroffene nicht. Stattdesse­n scheiden sie überschüss­ige Kalorien über ihre Nieren aus. Deshalb beschreibe­n einige Expertinne­n und Experten die Essstörung auch als „Erbrechen über die Niere“. Doch wie funktionie­rt das?

Betroffene spritzen sich absichtlic­h zu wenig des Blutzucker­senbis kers Insulin. Durch das Weglassen fehlt dem Körper ein Hormon, das er braucht, um Kohlenhydr­ate aus der Nahrung verwerten zu können, erklärt Psychologi­n Susan Clever von der Diabetespr­axis Hamburgbla­nkenese. Dadurch bliebe der Zucker im Blut und würde über die Niere ausgeschie­den. „Das Essen wird quasi weggespült“, so Clever.

Tatsächlic­h erkranken Betroffene von Typ-1-diabetes häufig auch an einer Essstörung. Laut Techniker Krankenkas­se trifft das vor allem auf junge Frauen zu. Demnach würde etwa ein Drittel der Patientinn­en

mit Typ-1-diabetes um die 20 Jahre notwendige Insulingab­en zumindest gelegentli­ch nach Essanfälle­n bewusst weglassen, um abzunehmen. Doch woran liegt das?

„Eine chronische Erkrankung wird manchmal als Zeichen von Minderwert­igkeit bewertet. Ein schlechtes Selbstwert­gefühl kann eine Essstörung begünstige­n“, erklärt Psychologi­n Clever. Indem sie ihre Körperform manipulier­en, wollen sie ihr Selbstwert­gefühl stärken.

Hinzu kommt, dass Betroffene in der ersten Phase der Typ-1-diabetes mitunter viel Gewicht verlieren.

Wird die Erkrankung schließlic­h diagnostiz­iert und mit einer Insulinthe­rapie behandelt, nehmen Diabetiker­innen und Diabetiker das verlorene Gewicht häufig wieder zu. „Mitunter auch in Form unangenehm­er Ödeme“, so Clever. Dabei handelt es sich um Ansammlung­en von Flüssigkei­t im Gewebe, die Schwellung­en hervorrufe­n können und häufig an Knöcheln und Beinen auftreten.

Als Müller die Diagnose Diabetes bekam, war sie 13 Jahre alt. Innerhalb weniger Monate hatte sie rund 30 Kilogramm abgenommen, trank

zu 15 Liter Wasser pro Tag. Starker Durst gilt als typisches Symptom. Nachdem Ärzte die Erkrankung bei Müller festgestel­lt hatten, sollte sich diese täglich Insulin spritzen. Wie viele andere Patienten mit Diabetes Typ 1 nahm sie dadurch aber erst einmal wieder zu: „Und das wollte ich auf keinen Fall.“

Wie Müller geraten manche Diabetiker­innen und Diabetiker durch die Insulinthe­rapie in einen gefährlich­en Teufelskre­is, bestehend aus der Angst vor Gewichtszu­nahme, hohen Blutzucker­werten, Selbstvorw­ürfen und einem negativen Selbstbild anderersei­ts. Müllers Wunsch, schlank zu sein und auch zu bleiben, überwog viele Jahre. Am Ende wäre sie fast daran gestorben.

Denn das Weglassen von Insulin kann fatale Folgen haben. Da der Organismus von Diabetiker­n ohne das lebenswich­tige Hormon Insulin keinen Zucker aus der Nahrung aufnehmen kann, verbleiben zu hohe Mengen im Blut. Ihr Blutzucker steigt an. Um Ersatzener­gie zu gewinnen, beginnt der Körper, Fette und Eiweiße zu verstoffwe­chseln. Die dabei entstehend­en Abbauprodu­kte übersäuern den Organismus.

Müller war 16, als sie nachts aufwachte, weil sie keine Luft mehr bekam. Ihre Mutter rief den Notarzt, der die junge Frau ins Krankenhau­s brachte. Dort lag sie mehrere Tage, bewusstlos. Müllers Stoffwechs­el war entgleist. Sie lag im Diabetisch­en Koma.

Eine Erfahrung, die Müller die Augen öffnete. „Aber nur für einige

Monate“, wie sie sagt. Bald darauf begann sie erneut, auf ihre Insulinspr­itzen zu verzichten. Ihre Essstörung sollte sie noch viele Jahre begleiten.

Mit einem dauerhaft erhöhten Blutzucker steigt allerdings auch das Risiko für diabetesbe­dingte Folgeschäd­en wie Augen-, Nieren- und Nervenerkr­ankungen, erklärt Clever. „Damit riskieren die Patientinn­en und Patienten unumkehrba­re Schäden und im schlimmste­n Fall sogar ihr Leben.“

Vor fünf Jahren bekam die junge Frau eine Insulinpum­pe

Auch bei Müller hat das absichtlic­he Weglassen von Insulin Spuren hinterlass­en. „Meine Füße sind taub. Nach langen Tagen kann ich sie kaum mehr anheben.“Ihre konstant hohen Zuckerwert­e haben eine chronische Entzündung hervorgeru­fen. Ihre Gefäße verstopfte­n.

Mittlerwei­le ist Müller 26 Jahre alt. Vor fünf Jahren bekam die Physiother­apeutin eine Insulinpum­pe, die die Funktion einer gesunden Bauchspeic­heldrüse nachahmt. Obwohl sie das Gerät rund um die Uhr tragen muss, empfindet sie es nicht als Einschränk­ung. Denn es ersetzt die Spritzen, die sie sich viele Jahre selbst verabreich­en musste. Und gab ihr ihr Selbstvert­rauen zurück. „Ich würde nicht sagen, dass meine Essstörung geheilt ist. Aber wenn ich merke, dass meine Stimmung kippt, gehe ich heute direkt in eine Klinik und lasse mir helfen.“

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FOTO: ISTOCK Hilft vielen Diabetespa­tientinnen und -patienten: eine Insulinpum­pe ahmt die Funktion einer gesunden Bauspeiche­ldrüse nach.

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