Diabetes und Essstörung – ein Teufelskreis
Viele junge Patientinnen spritzen absichtlich kein Insulin, um ihr Gewicht zu halten. Das ist lebensgefährlich
Berlin. Jasmin Müller aß oft den ganzen Tag über, manchmal sogar nachts. Nicht drei bis fünf Mahlzeiten, wie es Ernährungsexpertinnen und -experten empfehlen, sondern zehn bis 20. Am liebsten Joghurt, Würstchen oder Nutella direkt aus dem Glas. In ihren Hochphasen verzehrte sie pro Tag 3000 bis 5000 Kilokalorien. Trotz allem blieb Müller schlank, nahm sogar ab.
Die junge Frau war keine Leistungssportlerin, die stundenlanges Training mit üppigen Mahlzeiten ausglich. Sie erbrach sich auch nicht, nachdem sie 30 Spiegeleier gegessen hatte. Müller ist Typ-1-diabetikerin. Und hatte herausgefunden, dass sie essen konnte, so viel sie wollte, solange sie das Insulin wegließ. Dass sie eine Essstörung entwickelt hatte, die ihr Leben bedrohte, wusste sie lange Zeit nicht.
Das Krankheitsbild wird auch als Diabulimie bezeichnet. Der Begriff ist eine Wortkombination aus Diabetes Typ 1 und Bulimie. Betroffene haben Angst, durch regelmäßige Insulingaben zuzunehmen. Im Gegensatz zur Bulimie, auch Essbrechsucht genannt, übergeben sich Betroffene nicht. Stattdessen scheiden sie überschüssige Kalorien über ihre Nieren aus. Deshalb beschreiben einige Expertinnen und Experten die Essstörung auch als „Erbrechen über die Niere“. Doch wie funktioniert das?
Betroffene spritzen sich absichtlich zu wenig des Blutzuckersenbis kers Insulin. Durch das Weglassen fehlt dem Körper ein Hormon, das er braucht, um Kohlenhydrate aus der Nahrung verwerten zu können, erklärt Psychologin Susan Clever von der Diabetespraxis Hamburgblankenese. Dadurch bliebe der Zucker im Blut und würde über die Niere ausgeschieden. „Das Essen wird quasi weggespült“, so Clever.
Tatsächlich erkranken Betroffene von Typ-1-diabetes häufig auch an einer Essstörung. Laut Techniker Krankenkasse trifft das vor allem auf junge Frauen zu. Demnach würde etwa ein Drittel der Patientinnen
mit Typ-1-diabetes um die 20 Jahre notwendige Insulingaben zumindest gelegentlich nach Essanfällen bewusst weglassen, um abzunehmen. Doch woran liegt das?
„Eine chronische Erkrankung wird manchmal als Zeichen von Minderwertigkeit bewertet. Ein schlechtes Selbstwertgefühl kann eine Essstörung begünstigen“, erklärt Psychologin Clever. Indem sie ihre Körperform manipulieren, wollen sie ihr Selbstwertgefühl stärken.
Hinzu kommt, dass Betroffene in der ersten Phase der Typ-1-diabetes mitunter viel Gewicht verlieren.
Wird die Erkrankung schließlich diagnostiziert und mit einer Insulintherapie behandelt, nehmen Diabetikerinnen und Diabetiker das verlorene Gewicht häufig wieder zu. „Mitunter auch in Form unangenehmer Ödeme“, so Clever. Dabei handelt es sich um Ansammlungen von Flüssigkeit im Gewebe, die Schwellungen hervorrufen können und häufig an Knöcheln und Beinen auftreten.
Als Müller die Diagnose Diabetes bekam, war sie 13 Jahre alt. Innerhalb weniger Monate hatte sie rund 30 Kilogramm abgenommen, trank
zu 15 Liter Wasser pro Tag. Starker Durst gilt als typisches Symptom. Nachdem Ärzte die Erkrankung bei Müller festgestellt hatten, sollte sich diese täglich Insulin spritzen. Wie viele andere Patienten mit Diabetes Typ 1 nahm sie dadurch aber erst einmal wieder zu: „Und das wollte ich auf keinen Fall.“
Wie Müller geraten manche Diabetikerinnen und Diabetiker durch die Insulintherapie in einen gefährlichen Teufelskreis, bestehend aus der Angst vor Gewichtszunahme, hohen Blutzuckerwerten, Selbstvorwürfen und einem negativen Selbstbild andererseits. Müllers Wunsch, schlank zu sein und auch zu bleiben, überwog viele Jahre. Am Ende wäre sie fast daran gestorben.
Denn das Weglassen von Insulin kann fatale Folgen haben. Da der Organismus von Diabetikern ohne das lebenswichtige Hormon Insulin keinen Zucker aus der Nahrung aufnehmen kann, verbleiben zu hohe Mengen im Blut. Ihr Blutzucker steigt an. Um Ersatzenergie zu gewinnen, beginnt der Körper, Fette und Eiweiße zu verstoffwechseln. Die dabei entstehenden Abbauprodukte übersäuern den Organismus.
Müller war 16, als sie nachts aufwachte, weil sie keine Luft mehr bekam. Ihre Mutter rief den Notarzt, der die junge Frau ins Krankenhaus brachte. Dort lag sie mehrere Tage, bewusstlos. Müllers Stoffwechsel war entgleist. Sie lag im Diabetischen Koma.
Eine Erfahrung, die Müller die Augen öffnete. „Aber nur für einige
Monate“, wie sie sagt. Bald darauf begann sie erneut, auf ihre Insulinspritzen zu verzichten. Ihre Essstörung sollte sie noch viele Jahre begleiten.
Mit einem dauerhaft erhöhten Blutzucker steigt allerdings auch das Risiko für diabetesbedingte Folgeschäden wie Augen-, Nieren- und Nervenerkrankungen, erklärt Clever. „Damit riskieren die Patientinnen und Patienten unumkehrbare Schäden und im schlimmsten Fall sogar ihr Leben.“
Vor fünf Jahren bekam die junge Frau eine Insulinpumpe
Auch bei Müller hat das absichtliche Weglassen von Insulin Spuren hinterlassen. „Meine Füße sind taub. Nach langen Tagen kann ich sie kaum mehr anheben.“Ihre konstant hohen Zuckerwerte haben eine chronische Entzündung hervorgerufen. Ihre Gefäße verstopften.
Mittlerweile ist Müller 26 Jahre alt. Vor fünf Jahren bekam die Physiotherapeutin eine Insulinpumpe, die die Funktion einer gesunden Bauchspeicheldrüse nachahmt. Obwohl sie das Gerät rund um die Uhr tragen muss, empfindet sie es nicht als Einschränkung. Denn es ersetzt die Spritzen, die sie sich viele Jahre selbst verabreichen musste. Und gab ihr ihr Selbstvertrauen zurück. „Ich würde nicht sagen, dass meine Essstörung geheilt ist. Aber wenn ich merke, dass meine Stimmung kippt, gehe ich heute direkt in eine Klinik und lasse mir helfen.“