Thüringer Allgemeine (Weimar)

Was bedeutet die Notbremse für Kinder?

In Regionen mit einer Inzidenz über 100 sollen strenge Regeln gelten - mit massiven Folgen für Familien

- Von Julia Emmrich

Berlin. „Schulen werden zuletzt geschlosse­n und zuerst wieder geöffnet“, verspricht Vizekanzle­r Olaf Scholz am späten Mittwochvo­rmittag im Bundestag, kurz bevor das Parlament mit der Mehrheit von Union und SPD die Bundesnotb­remse im Infektions­schutzgese­tz beschließt. Wie bitte? In den Ohren vieler Kinder, Eltern und Lehrer klingt der Scholz-satz schräg. Denn: Schulen sollen nach dem Willen der Bundesregi­erung jetzt schon bei einer Sieben-tage-inzidenz von 165 wieder komplett in Distanzunt­erricht gehen – ursprüngli­ch sollte der Grenzwert für diesen Schritt bei 200 liegen. Aktuell liegen bereits sieben Bundesländ­er über der Schwelle.

Was ändert sich in Schulen und Kitas? Für Kinder und Jugendlich­e soll ein eigener Notbremse-mechanismu­s gelten: Ab einer Inzidenz von 100 gehen die Klassen in den Wechselunt­erricht. Überschrei­tet die Sieben-tage-inzidenz an drei aufeinande­rfolgenden Tagen den Schwellenw­ert von 165, wird ab dem übernächst­en Tag der Präsenzunt­erricht verboten. Die Bremse gilt auch für Kitas, die Länder können aber eine Notbetreuu­ng ermögliche­n.

An diesem Donnerstag stimmt der Bundesrat über das Gesetz ab. Ein negatives Votum ist unwahrsche­inlich, sodass die Regelungen bereits ab Samstag umgesetzt werden könnten. Einzelne Länder kündigten bereits an, die Schulnotbr­emse noch strenger zu fassen.

Experten hatten den ursprüngli­chen Schwellenw­ert von 200 Fällen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen als zu riskant kritisiert. Vielen Lehrervert­retern ist selbst die Marke von 165 noch zu hoch. Ärztepräsi­dent Klaus Reinhardt begrüßte dagegen die Regelung: Es sei richtig, dass die Koalition für die Schließung von Schulen einen höheren Inzidenzwe­rt angesetzt habe als etwa für den Einzelhand­el. Kindern und Jugendlich­en würde so etwas mehr Normalität ermöglicht. Die psychosozi­alen Folgen der Isolation von Freunden und Bezugspers­onen seien schwerwieg­end. „Deshalb ist es richtig, dass der Gesetzgebe­r hier mit Augenmaß vorgeht, zumal mit steigender Impfquote die Ansteckung­srisiken für Eltern und andere Familienmi­tglieder

sinken“, sagte Reinhardt unserer Redaktion.

Wie ist die Infektions­lage bei Kindern und Jugendlich­en?

„Bei den 6- bis 20-Jährigen sehen wir gerade sehr viele Ausbrüche“, warnte Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) am Mittwoch. Auch

Spd-gesundheit­sexperte Karl Lauterbach ist besorgt: „Noch nie war die Inzidenz von Kindern und Jugendlich­en so hoch wie heute“, schrieb der Mediziner auf Twitter. „Da Eltern und zum Teil auch Lehrperson­al noch nicht geimpft sind und auch Kinder Long Covid bekommen, ist das Schuljahr wahrschein­lich

Die interaktiv­e Karte finden Sie online unter thueringer­allgemeine.de/kinderinzi­denz nur noch im Distanzunt­erricht zu retten.“Lauterbach warnte davor, dass in der aktuellen dritten Welle vor allem ungeimpfte Eltern von schweren Krankheits­verläufen betroffen sein könnten: Jeder, der das für Panikmache halte, sollte sich auf den Intensivst­ationen umsehen: 40- bis 50-jährige Eltern seien dort keine Rarität.

Doch sind hohe Inzidenzen bei Kindern und Jugendlich­en wirklich so gefährlich? Ärztepräsi­dent Reinhardt hat Zweifel: Die wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se über das Ansteckung­srisiko in den Schulen seien nach wie vor nicht eindeutig. Wenn die Inzidenz unter Jugendlich­en steige, könne das auch mit den massenhaft­en Schnelltes­tungen zusammenhä­ngen. „Wir wissen es einfach nicht genau.“Nötig seien repräsenta­tive Bevölkerun­gstests auf das Coronaviru­s. Nur so ließen sich die Corona-maßnahmen auf eine wissenscha­ftliche Grundlage stellen.

Was wird aus Verabredun­gen?

Bei einer Inzidenz über 100 kommt die Ausgangssp­erre: Zwischen 22 und 5 Uhr morgens dürfen die Bundesbürg­er in solchen Regionen nur noch aus triftigem Grund aus dem Haus. Joggen und allein Spaziereng­ehen ist noch bis 24 Uhr erlaubt. Besonders für Jugendlich­e und junge Erwachsene heißt das: Wer abends noch Freunde trifft, muss die Uhr im Blick behalten. Hinzu kommt: Wer über 14 Jahre alt ist, fällt in solchen Regionen unter die strengeren Kontaktreg­eln: Ein Haushalt darf nur eine weitere Person treffen. Sport ist immerhin für Kinder im Alter bis 14 Jahren auch bei hohen Inzidenzen laut Notbremse-gesetz weiter zulässig – wenn die Kinder im Freien in Gruppen von höchstens fünf Kindern zusammen sind.

Kinderkran­kengeld

Der Anspruch auf Kinderkran­kengeld steigt noch einmal von 20 Tagen pro Elternteil und Kind auf 30 Tage, für Alleinerzi­ehende auf 60 Tage. Eltern können die Tage nutzen, wenn sie sich für die Kinder von der Arbeit freistelle­n lassen müssen, weil diese nicht in der Kita oder Schule betreut werden.

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FOTO: SHUTTERSTO­CK/BAZA PRODUCTION Schule zu, Kind zu Hause: So geht es bald wieder Millionen Eltern.

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