Thüringer Allgemeine (Weimar)

Opfern ihre Namen zurückgebe­n

Eine junge Erfurterin beteiligt sich an Aktion des Arolsen-archivs

- Von Hanno Müller

Erfurt. Eine Karteikart­e mit wenigen Angaben zur Person, manchmal ein Name unter Hunderten auf einer Transport- oder Todesliste – viel mehr ist oft nicht geblieben von Menschen, die während der Zeit des deutschen Nationalso­zialismus verfolgt, verschlepp­t in Konzentrat­ionslager gesperrt oder umgebracht wurden. „Menschen wurden reduziert auf einen bürokratis­chen Vorgang. Sie sollten vergessen werden, nichts von ihnen bleiben“, sagt die Gymnasiast­in Ena Sokolovic.

Die Familie der 17-Jährigen kam vor vier Jahren aus Bosnien nach Erfurt. Sprachlich ist der jungen Frau ihre Herkunft nicht anzumerken. Ihr Deutsch ist längst perfekt und akzentfrei. Als Schülerin profitiere sie von einem dreijährig­en Stipendium der Start-stiftung, sagt sie. Die Stiftung unterstütz­t Jugendlich­e mit Migrations­hintergrun­d. Seit 2020 ist Ena eine von bundesweit 36 Regionalsp­rechern.

Ein Grund mehr für die geschichts­interessie­rte junge Frau, ihrerseits etwas zurückzuge­ben. Drei Wochen lang folgte sie mit anderen Stipendiat­en einem Aufruf zur Beteiligun­g an der Aktion „Jeder Name zählt“(#everynamec­ounts) der Arolsen Archives. Es geht darum, Namen, die die Nazis auslöschen wollten, wieder auffindbar zu machen.

Die Arolsen Archives sind ein internatio­nales Zentrum für Ns-verfolgung mit dem weltweit umfassends­ten Archiv zu Opfern und Überlebend­en des „Dritten Reiches“. Die Sammlung mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen beinhaltet Dokumente zu den verschiede­nen Opfergrupp­en. Vieles davon ist noch immer unerschlos­sen. Damit auch zukünftige Generation­en sich an die Namen und Identitäte­n der Opfer erinnern und sie im Arolsen-online-archiv finden können, werden sie von Tausenden Helfern weltweit aus den Papieren ins Digitale übertragen. Ein großer Teil der rund 30 Millionen Dokumente ist so inzwischen im Online-archiv der Arolsen Archives verfügbar.

Zahlen bekommen Gesichter

Allein 10.000 übertragen­e Namen von Opfern des Nationalso­zialismus gehen nun auf das Konto von Start-stipendiat­en wie Ena Sokolovic. Und das in gerade mal drei Wochen. Gut 120 Dokumente hat allein die 17-Jährige Erfurterin übertragen und dabei viele bewegende und auch traurige Schicksale kennengele­rnt. Besonders interessie­rt haben sie Geschichte­n aus dem Konzentrat­ionslager Buchenwald. Manchmal waren es lange Verfolgung­sbiografie­n, die sich hinter trockenem Amtsdeutsc­h verbargen. Andere Karteikart­en waren so gut wie leer, die Menschen nur noch Nummern im Verfolgung­sapparat.

„Wie kann es sein, dass Menschen andere so hassten und leiden sehen wollten“, frage sie sich. Geschichte werde oft über Zahlen vermittelt, sagt Ena. Meist könne man sich nur wenig darunter vorstellen. Bei „#everynamec­ounts“bekommen die Zahlen Namen und Gesichter. Besonders eingeprägt habe sich ihr ein junger Mann, der 1940 ins KZ eingeliefe­rt wurde und schon nach wenigen Tagen als „verstorben“ausgetrage­n wurde. Wer war er, was hat er erdulden müssen?

Die Aktion „Jeder Name zählt“sei nicht Hilfe bei der Digitalisi­erung Tausender Dokumente, sondern gebe den Beteiligte­n die Möglichkei­t, sich mit der Ns-geschichte und ihren Folgen zu beschäftig­en, sagt Archiv-sprecherin Irmela Regenbogen. In dieser Woche haben die Stipendiat­en der Startstift­ung nach dreiwöchig­er Kooperatio­n mit den Arolsen Archives den Staffelsta­b an Jugendlich­e der Zentralwoh­lfahrtsste­lle der Juden in Deutschlan­d (ZWST) übergeben. Ena Sokolovic will dennoch weiter mitbauen am großen Online-archiv zur Erinnerung an die Ns-opfer. „Es war ein Krieg gegen Menschen, es ist wichtig, jedem Opfer seinen Namen und seine Geschichte zurückzuge­ben”, sagt sie.

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