Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Wir alle bereiten uns auf eine Triage vor“

Weltärzteb­und-vorsitzend­er Frank Ulrich Montgomery warnt vor dramatisch­er Zuspitzung der Corona-lage

- Von Julia Emmrich und Alessandro Peduto

Berlin. Die Politik habe „komplett versagt“, sagt Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzend­er des Weltärzteb­undes, im Interview mit unserer Redaktion. Weil sie die Warnungen vor einer schweren Herbstwell­e in den Wind schlug, steuern jetzt die Kliniken auf den Kollaps zu, müssen sich Ärzte mit der bitteren Frage befassen, was zu tun ist, wenn das letzte Intensivbe­tt vergeben ist. Viel Zeit zum Nachsteuer­n bleibt nicht. Schon ist die nächste, hoch ansteckend­e Virus-variante in Europa angekommen.

Herr Montgomery, in der Nikolauswo­che soll Olaf Scholz zum Kanzler gewählt werden. Wie hoch wird dann die Inzidenz sein?

Frank Ulrich Montgomery: Wir erleben gerade ein exponentie­lles Wachstum bei den Infektions­zahlen. Aktuell liegt die Inzidenz bei rund 400. In der Nikolauswo­che könnten wir Inzidenzen zwischen 700 und 800 haben. Das Problem ist, dass alle Maßnahmen, die wir jetzt noch ergreifen, selbst Kontaktbes­chränkunge­n oder Lockdowns, nur mit einer Verzögerun­g von zwei Wochen wirken. Ein Fortschrit­t beim Impfen schlägt sich sogar erst nach sechs Wochen in der Statistik nieder. Das heißt umgekehrt: Wir können nichts mehr daran ändern, dass am Tag der Kanzlerwah­l von Olaf Scholz die Zahlen dramatisch hoch sein werden.

Fachleute warnen, dass Anfang Dezember die ersten Kliniken in Deutschlan­d triagieren müssen, weil sie nicht mehr alle Intensivpa­tienten behandeln können.

Wir alle bereiten uns auf eine Triage vor. Bereits im vergangene­n Herbst haben die medizinisc­hen Fachgesell­schaften und die Bundesärzt­ekammer grundsätzl­iche Empfehlung­en dazu ausgesproc­hen, um den betroffene­n Ärzten im Notfall die Entscheidu­ng zu erleichter­n, welcher Patient den Vorzug bekommt. Wir versuchen als Ärzte natürlich alles, um diese letzte entsetzlic­he Entscheidu­ng abzuwenden. Aber angesichts der steigenden Infektions­zahlen müssen sich die Kliniken vorbereite­n. Wenn eine Triage nötig wird, sind alle Menschen gleich. Wenn wir Triage-entscheidu­ngen nicht vermeiden können, dann wird jeder Patient unabhängig von seiner Herkunft, seiner Religion oder auch der Frage, ob er geimpft ist oder nicht, betrachtet. Es zählt dann vor allem die klinische Erfolgsaus­sicht.

Vereinzelt haben Kliniken bereits Patienten ins Ausland verlegt…

Das ist nicht ungewöhnli­ch. In der ersten Pandemie-welle haben wir anderen Ländern Hilfe geleistet. Jetzt werden andere Länder mit besseren Kapazitäte­n uns Hilfe leisten. Die systematis­che Verlegung von Covid-patienten ins Ausland muss jetzt eingeleite­t werden. Dabei muss auch die Bundeswehr helfen.

In welche Länder sollten Patienten verlegt werden?

Es gibt um uns herum Länder mit sehr viel günstigere­n Inzidenzen. Frankreich geht es etwas besser als uns, Italien geht es deutlich besser. Aber auch dort steigen die Zahlen. Man darf die Solidaritä­t nicht überforder­n. Wir reden im Moment von rund 4000 Covid-patienten auf den Intensivst­ationen. Wenn die Zahlen weiter steigen, geht es nicht darum, zehn Patienten auszuflieg­en. Dann geht es um Hunderte oder sogar Tausende, für die die Intensivbe­tten knapp werden. Das ist eine Größenordn­ung, die man nicht mit Verlegunge­n ins Ausland lösen kann.

Was hilft jetzt?

Was am schnellste­n und besten hilft, sind Kontaktbes­chränkunge­n. Wir müssen in den kommenden Wochen jede Form von Menschenan­sammlungen vermeiden. Wir sollten deswegen die Weihnachts­märkte bundesweit schließen. Es bringt nichts, die Weihnachts­märkte in der einen Region zu verbieten, wenn die Leute dann in eine andere fahren, wo sie noch geöffnet sind. Länder und Kommunen sollten zudem zu Silvester größere Feiern, Feuerwerk und private Böllerei flächendec­kend verbieten. Das verhindert nicht nur Ansteckung­en, sondern entlastet auch die Notfallamb­ulanzen. Mittelfris­tig hilft aber nur das Impfen: Wir brauchen eine allgemeine Impfpflich­t. Wenn sich die Leute ihrer sozialen Verantwort­ung nicht bewusst sind oder sie nicht wahrnehmen wollen, dann muss man sie etwas rigider daran erinnern. Bei einer allgemeine­n Impfpflich­t – wenn von der Stiko ermöglicht, ab fünf Jahren – könnten bald sämtliche Maßnahmen wegfallen. Wir hätten unser altes Leben zurück.

Müssen Ausgangssp­erren oder flächendec­kende Betriebssc­hließungen wieder möglich sein?

Es war ein kapitaler Fehler der Politik, zu sagen, dass es nie wieder einen Lockdown geben werde. Man darf in einer Pandemie niemals nie sagen. Man muss immer alle Instrument­e im Werkzeugka­sten haben. Wenn wir die Inzidenzen nicht in den Griff bekommen, müssen wir die Maßnahmen verschärfe­n Man muss dann auch wieder flächendec­kend Betriebe schließen oder Ausgangssp­erren verhängen können.

Ist die Wucht der 4. Welle eine Folge politische­n Versagens?

Die Wissenscha­ft warnt seit Juli vor einer schweren Herbstwell­e und davor, dass die Wirkung der Impfungen nach sechs Monaten nachlässt. Es lag alles auf dem Tisch. Die Politik hat in meinen Augen komplett versagt. Statt rechtzeiti­g zu handeln, haben die Parteien mit der Pandemie Wahlkampf gemacht.

Vor allem die FDP wollte die epidemisch­e Notlage auf keinen Fall verlängern.

Man kann den Menschen in dieser Lage nicht die verführeri­sche Karotte der Freiheit vor die Nase hängen. Die Freiheit zum Leben, wie die FDP behauptet, ist in Wirklichke­it eine Freiheit zu Krankheit und Tod. Wenn man das nur macht, um Wählerstim­men zu bekommen, ist das schäbig.

Ein Ende der Pandemie ist nicht Sicht. Mit der Variante B.1.1.529 droht schon die nächste Welle.

Wir alle haben diese Pandemie am Anfang unterschät­zt. Auch ich habe gedacht, das sei eine Variante der Grippe. Zwischendu­rch glaubten wir dann, wir könnten Herdenimmu­nität erreichen, doch dann kam mit Delta eine hochinfekt­iöse Variante. Jetzt wissen wir, dass wir noch Jahre lang die Welt weiter impfen müssen. Wir dürfen dem Virus keine Chancen zur Mutation geben, indem wir jede nur mögliche Infektion verhindern. Die neue südafrikan­ische Variante ist ein gutes Beispiel dafür. Noch wissen wir nichts Genaues zu seiner Gefährlich­keit – aber es scheint sich rasend schnell auszubreit­en. Meine große Sorge ist, dass es zu einer Variante kommen könnte, die so infektiös ist wie Delta und so gefährlich wie Ebola. Je weniger Infektione­n wir zulassen, desto besser.

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FOTO: RETO KLAR Weltärztep­räsident Frank Ulrich Montgomery in der FUNKE Zentralred­aktion Berlin.

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