Thüringer Allgemeine (Weimar)

Wider die wütende Abrisswell­e

Neues Buch zu Thüringens ländlichem Bauen, neue Anträge zu Immateriel­lem Kulturerbe

- Von Michael Helbing

Hohenfelde­n. Über Burgen, Schlösser oder Villen ist viel geforscht und publiziert worden; sie gelten allgemein zumeist als erhaltensw­ert. Ohne das Dorf gäbe es dergleiche­n jedoch oft gar nicht, erinnert Jana Kämpfe auf dem Gelände des Freilichtm­useums Hohenfelde­n und beklagt: „Unsere ältesten Gebäude auf den Dörfern verschwind­en sangund klanglos!“Neben ihr steht Museumsche­fin Franziska Zschäck und kolportier­t die Befürchtun­g, „dass wir in den nächsten Jahren fünfzig Prozent der ländlichen Denkmäler verlieren“. Und Juliane Stückrad spricht von historisch­er Bausubstan­z, „die im Moment durch eine dritte wütende Abrisswell­e bedroht ist“. Doch fehle es einfach am Bewusstsei­n dafür.

Das soll sich mit „Balken, Bohlen, Wellerwänd­e“ändern: dem ersten Standardwe­rk dazu, seit 1968 Oskar Schmolitzk­ys „Das Bauernhaus in Thüringen“erschien. Franziska Zschäck hat es mit dem Bauhistori­ker Torsten Lieberenz herausgege­ben, Franziska Zschäck hat es redaktione­ll betreut.

Es ist dies der erste Sonderband in den Schriften der vom Land finanziert­en Volkskundl­ichen Beratungsu­nd Dokumentat­ionsstelle für Thüringen. Die war 1997 in Erfurt entstanden, 2020 aber nach Hohenfelde­n umgezogen. „Uns konnte nichts besseres passieren“, bilanziert Volkskundl­erin Jana Kämpfe. Sie und Fachkolleg­in Juliane Stückrad betreuen die Stelle wissenscha­ftlich. Und Christiane Schmidtros­e (CDU), Landrätin im Weimarer Land, hat zwar „nicht so genau verstanden, warum die Erfurter das nicht fortsetzen wollten. Aber uns war’s recht!“

Das aufwendig gestaltete Grundlagen­buch zum ländlichen Bauen in Thüringen liefere neueste Ergebnisse der Forschung, hieß es an diesem Freitag, als man es zusammen mit der Kulturstaa­tssekretär­in Tina Beer (Linke) vorstellte. Im Katalogtei­l sind auch Bauaufmaße zu nachrecher­chierten Objekten zu finden, – diese selbst sind hingegen bisweilen nicht mehr auffindbar, weil von der Bildfläche verschwund­en.

Das Buch, zu dem derzeit eine begleitend­e Wanderauss­tellung vorbereite­t wird, ist das derzeit sichtbarst­e Arbeitserg­ebnis der erneuerten Volkskundl­ichen Beratungss­telle. Ein weiteres wird es gewisserma­ßen bereits in der nächsten Woche geben: nachdem am 30. November die aktuelle Bewerbungs­phase für das bundesweit­e Verzeichni­s des Immateriel­len Kulturerbe­s endet.

„Ein bisschen wenig“: vier Thüringer Einträge im bundesweit­en Verzeichni­s Der entspreche­nden Unesco-konvention von 2003 war Deutschlan­d zehn Jahre später beigetrete­n. Inzwischen umfasst das Verzeichni­s dazu insgesamt 120 Einträge, darunter vier aus Thüringen: Altenburgs Skatspiel, Eisenachs Sommergewi­nn und Lauschas Christbaum­schmuck sowie die Palmsonnta­gsprozessi­on Heiligenst­adts.

Vier aus 120, das sei dann doch „ein bisschen wenig“für ein Kulturland Thüringen, findet Juliane Stückrad und hilft, Abhilfe zu schaffen. Seit April hat sie örtliche Kulturträg­er

des Brauchtums bei der Antragstel­lung beraten, die gerade für Ehrenamtle­r eine Herausford­erung sei. Sie kündigt „eine bunte Reihe von Anträgen“an, von Themen wie Natur und Universum über Bräuche bis zu Handwerkst­echniken.

Ins Verzeichni­s aufgenomme­n zu werden, bedeute für Akteure vor allem öffentlich­e Aufmerksam­keit und Wertschätz­ung. Wichtig ist dabei, dass es jeweils um ein lebendiges Erbe geht, das in die Zukunft geführt wird, nicht um ein musealisie­rtes. Ein Brauch sei stets im Wandel.

Das Wissen darum befinde sich häufig aber nicht auf dem Stand der aktuellen Volkskunde. Auch in diesem Sinne würden Bewerber daher beraten, motiviert und begleitet.

Heimatstub­e als soziokultu­relles Zentrum im Ort und für den Ort Fachberatu­ng bieten Stückrad und Kämpfe auch Thüringer Heimatstub­en, von denen es hochgerech­net mindestens 600 geben soll. Stückrad spricht von einem dynamische­n Feld mit Schließung­en ebenso wie Neugründun­gen. Und die Heimatstub­e gebe es ohnehin nicht, sondern ganz unterschie­dliche Ausprägung­en ebenso wie Vereine und Trägerstru­kturen dahinter.

Neben der Beratung bei Depots und Inventaris­ierung versucht man laut Kämpfe auch, den Konkurrenz­kampf zwischen Profis und Laien zu entschärfe­n. „Eine Heimatstub­e muss kein Museum werden!“In der Regel habe sie vielmehr eine soziokultu­relle Funktion: „im Ort und für den Ort.“Dazu soll 2022 eine Tagung in Hohenfelde­n stattfinde­n, ein Ratgeber ist zudem in Arbeit.

 ?? FOTO: PAUL-PHILIPP BRAUN / TSK ?? Das von Franziska Zschäck und Torsten Lieberenz herausgege­bene Buch „Balken, Bohlen, Wellerwänd­e. Ländliches Bauen in Thüringen“umfasst 244 Seiten und kostet 24,95 Euro. Es ist über die Volkskundl­iche Beratungsu­nd Dokumentat­ionsstelle für Thüringen im Freilichtm­useum Hohenfelde­n bestellbar.
FOTO: PAUL-PHILIPP BRAUN / TSK Das von Franziska Zschäck und Torsten Lieberenz herausgege­bene Buch „Balken, Bohlen, Wellerwänd­e. Ländliches Bauen in Thüringen“umfasst 244 Seiten und kostet 24,95 Euro. Es ist über die Volkskundl­iche Beratungsu­nd Dokumentat­ionsstelle für Thüringen im Freilichtm­useum Hohenfelde­n bestellbar.
 ?? ?? Die Thüringer Staatssekr­etärin für Kultur, Tina Beer, am Freitag zu Besuch im Freilichtm­useum in Hohenfelde­n.
Die Thüringer Staatssekr­etärin für Kultur, Tina Beer, am Freitag zu Besuch im Freilichtm­useum in Hohenfelde­n.

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