Die Schrift an der Wand
Ich werde im Theater gewesen sein. Ich werde die dritte Impfung bekommen haben.
Das ist keine, für mich als Menschen mit Migrationshintergrund, also einem nicht deutschstämmigen Elternteil, das ist also keine Einübung in die Untiefen der deutschen Grammatik, Abteilung Futur II, das ist meine Reverenz an die Lage. Nämlich, ich gehe am Freitag, das ist für mich jetzt übermorgen, ins Theater, falls nichts dazwischenkommt. Nicht bei mir, bei dem zuständigen Amt. Und auch heute, also jetzt wirklich heute, beabsichtige ich einen solchen Gang zu tun, erst Meiningen, dann Rudolstadt.
Ich mache das gern, im Prinzip. Außerdem bekomme ich noch Geld dafür, es war das Theater, das mich ein Leben lang, abgesehen von den Eltern, ernährt hat auf die eine oder andere Weise. Aber dennoch… Aber dennoch frage ich mich, ob das gut ist. Ob es gut ist, die Theater in Thüringen spielen zu lassen, in Sachsen sind sie geschlossen. Natürlich, 2G und Maske, aber dennoch. Dennoch bleibt da ein Risiko. Ich sage das, anders als die letztens hier geäußerte Meinung über asoziales Verhalten, mit aller Vorsicht, sozusagen verzagt. Schließlich und endlich, man mag es mögen oder nicht, es gibt Wichtigeres als Theater.
Weihnachtsmärkte zum Beispiel. Das ist weder Sarkasmus noch Ironie, ich bin, wie gesagt, einer, der Theater als essentiellen Teil seines Lebens empfindet und Weihnachtsmärkte als ziemliches Gedrängel. Aber Weihnachtsmärkte sind Teil der Alltagskultur, sie prägen die Stimmung in dieser ohnehin angespannten Zeit. Aber trotzdem sind sie verboten – und das, finde ich, ist eine richtige und klare Entscheidung.
Nicht so ganz klar ist mir die Frage, ob die Gefährdung auf dem Markt unter freiem Himmel tatsächlich so viel größer ist als im geschlossenen Raum eines Theaters. Zumal die Schließung eines Theaters, das von der Gesellschaft unterhalten wird, dieses nicht gefährdet, anders als die eines Marktes den Händler, der für sich selbst zu sorgen hat. So wie, wenigstens in gewisser Weise, die Kommunen und ihre Vorsteher. Deshalb haben sie in Erfurt, Weimar, Eisenach und Gotha die Weihnachtsmärkte erst einmal eröffnet. Und in Sonderheit der Erfurter Oberbürgermeister dröhnt mächtig gewaltig auf seiner Weihnachtsinsel. Schließlich, er hat, Hokuspokus und zieht das Kaninchen aus dem Hut, ein sehr ernsthaftes Problem mit einem Taschenspielertrick vom Tisch gewischt. Wird schon gehen, irgendwie.
Und deshalb sind wir, wo wir sind. Weil diese Wird-schon-nichtso-schlimm-werden-mentalität umgeht, nicht nur bei den unberatenen Bürgern, auch bei den entscheidenden Politikern. Es fehlt, was bis zu einem gewissen Grad und einem gewissen Zeitpunkt verständlich war, der Mut, als grundsätzlich richtig erkannte Maßnahmen durchzusetzen. Und noch immer wird die Flammenschrift an der Wand nicht vollkommen verstanden, und wenn, dann nicht mit aller gebotenen Konsequenz danach gehandelt.
Dem Erfurter Oberbürgermeister etwa ist das Wohlwollen eines Teiles der Bürger ein höheres Gut als das gesundheitliche Wohlergehen aller.
Wer 6000 Menschen zur Party lädt, der muss sich das gefallen lassen. Außerdem, und das nimmt er mindestens billigend in Kauf, befeuert er die ohnehin aufgeheizten Debatten.
Die 3G-regel für Bus und Bahn ist eine gute Sache – aber da der Verstoß dagegen im Bereich einer Ordnungswidrigkeit bleibt und die
Verstoßenden also nur entfernt, nicht aber bestraft werden können, ist das im Grunde eine Goodwillaktion. Schulterzucken, Aussteigen, nächste Bahn. Die „epidemische Notlage“wird ohne Not beendet – es ist zu vermuten, dass sie daran wieder arbeiten: Wenn es nicht mehr anders geht.
Der Präsident des FC Erzgebirge Aue hat einen Lockdown für den Profifußball gefordert – es ist zu vermuten, dass er kommt: Wenn es nicht mehr anders geht. Auch einige Ministerpräsidenten reden jetzt von einer Impfpflicht – es ist zu vermuten, dass sie kommt: Wenn es nicht mehr anders geht. Aber bis dahin werden viele Menschen gegangen sein.
Es gibt eine berühmte Stelle in dem Stück, das ich am Freitag gesehen haben werde: „Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch.“