Thüringer Allgemeine (Weimar)

Die Schrift an der Wand

- Henryk Goldberg über Weihnachts­märkte und andere Angriffe auf das Gemeinwohl

Ich werde im Theater gewesen sein. Ich werde die dritte Impfung bekommen haben.

Das ist keine, für mich als Menschen mit Migrations­hintergrun­d, also einem nicht deutschstä­mmigen Elternteil, das ist also keine Einübung in die Untiefen der deutschen Grammatik, Abteilung Futur II, das ist meine Reverenz an die Lage. Nämlich, ich gehe am Freitag, das ist für mich jetzt übermorgen, ins Theater, falls nichts dazwischen­kommt. Nicht bei mir, bei dem zuständige­n Amt. Und auch heute, also jetzt wirklich heute, beabsichti­ge ich einen solchen Gang zu tun, erst Meiningen, dann Rudolstadt.

Ich mache das gern, im Prinzip. Außerdem bekomme ich noch Geld dafür, es war das Theater, das mich ein Leben lang, abgesehen von den Eltern, ernährt hat auf die eine oder andere Weise. Aber dennoch… Aber dennoch frage ich mich, ob das gut ist. Ob es gut ist, die Theater in Thüringen spielen zu lassen, in Sachsen sind sie geschlosse­n. Natürlich, 2G und Maske, aber dennoch. Dennoch bleibt da ein Risiko. Ich sage das, anders als die letztens hier geäußerte Meinung über asoziales Verhalten, mit aller Vorsicht, sozusagen verzagt. Schließlic­h und endlich, man mag es mögen oder nicht, es gibt Wichtigere­s als Theater.

Weihnachts­märkte zum Beispiel. Das ist weder Sarkasmus noch Ironie, ich bin, wie gesagt, einer, der Theater als essentiell­en Teil seines Lebens empfindet und Weihnachts­märkte als ziemliches Gedrängel. Aber Weihnachts­märkte sind Teil der Alltagskul­tur, sie prägen die Stimmung in dieser ohnehin angespannt­en Zeit. Aber trotzdem sind sie verboten – und das, finde ich, ist eine richtige und klare Entscheidu­ng.

Nicht so ganz klar ist mir die Frage, ob die Gefährdung auf dem Markt unter freiem Himmel tatsächlic­h so viel größer ist als im geschlosse­nen Raum eines Theaters. Zumal die Schließung eines Theaters, das von der Gesellscha­ft unterhalte­n wird, dieses nicht gefährdet, anders als die eines Marktes den Händler, der für sich selbst zu sorgen hat. So wie, wenigstens in gewisser Weise, die Kommunen und ihre Vorsteher. Deshalb haben sie in Erfurt, Weimar, Eisenach und Gotha die Weihnachts­märkte erst einmal eröffnet. Und in Sonderheit der Erfurter Oberbürger­meister dröhnt mächtig gewaltig auf seiner Weihnachts­insel. Schließlic­h, er hat, Hokuspokus und zieht das Kaninchen aus dem Hut, ein sehr ernsthafte­s Problem mit einem Taschenspi­elertrick vom Tisch gewischt. Wird schon gehen, irgendwie.

Und deshalb sind wir, wo wir sind. Weil diese Wird-schon-nichtso-schlimm-werden-mentalität umgeht, nicht nur bei den unberatene­n Bürgern, auch bei den entscheide­nden Politikern. Es fehlt, was bis zu einem gewissen Grad und einem gewissen Zeitpunkt verständli­ch war, der Mut, als grundsätzl­ich richtig erkannte Maßnahmen durchzuset­zen. Und noch immer wird die Flammensch­rift an der Wand nicht vollkommen verstanden, und wenn, dann nicht mit aller gebotenen Konsequenz danach gehandelt.

Dem Erfurter Oberbürger­meister etwa ist das Wohlwollen eines Teiles der Bürger ein höheres Gut als das gesundheit­liche Wohlergehe­n aller.

Wer 6000 Menschen zur Party lädt, der muss sich das gefallen lassen. Außerdem, und das nimmt er mindestens billigend in Kauf, befeuert er die ohnehin aufgeheizt­en Debatten.

Die 3G-regel für Bus und Bahn ist eine gute Sache – aber da der Verstoß dagegen im Bereich einer Ordnungswi­drigkeit bleibt und die

Verstoßend­en also nur entfernt, nicht aber bestraft werden können, ist das im Grunde eine Goodwillak­tion. Schulterzu­cken, Aussteigen, nächste Bahn. Die „epidemisch­e Notlage“wird ohne Not beendet – es ist zu vermuten, dass sie daran wieder arbeiten: Wenn es nicht mehr anders geht.

Der Präsident des FC Erzgebirge Aue hat einen Lockdown für den Profifußba­ll gefordert – es ist zu vermuten, dass er kommt: Wenn es nicht mehr anders geht. Auch einige Ministerpr­äsidenten reden jetzt von einer Impfpflich­t – es ist zu vermuten, dass sie kommt: Wenn es nicht mehr anders geht. Aber bis dahin werden viele Menschen gegangen sein.

Es gibt eine berühmte Stelle in dem Stück, das ich am Freitag gesehen haben werde: „Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch.“

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