Thüringer Allgemeine (Weimar)

Warum Wuppertal

Bei der Stadt im Bergischen Land denken die meisten wohl als Erstes an die Schwebebah­n. Und dann? Entdeckung­en zwischen Industrie- und Hochkultur

- Von Bernd F. Meier

Wolfram Deutsch zieht einen etwas gewagten Vergleich heran: „New York hat die autofreie Highline, Wuppertal die 23 Kilometer lange Nordbahntr­asse“, sagt der Industriem­anager, der als Hobby einen Fahrradver­leih an ebenjener Strecke betreibt. Die Nordbahn kann sich in der Tat sehen lassen. Wo bis 1991 noch Triebwagen­züge von Bahnhof zu Bahnhof dieselten, ist einer der europaweit längsten innerstädt­ischen Wege für Radfahrer, Fußgänger und Skater entstanden. An sonnigen Tagen sind Tausende auf der Trasse unterwegs. Radtourist­en blicken von historisch­en Brückenvia­dukten auf das Häusermeer im Tal, Wuppertale­r pendeln zur Arbeit.

Die Nordbahntr­asse zählt zu den Attraktion­en der touristisc­h wenig bekannten Großstadt im Bergischen Land, eine knappe Autostunde von Düsseldorf entfernt. Man darf es so sagen: Manche in der Region finden Wuppertal nicht gerade sehenswert. Eher das Gegenteil. Diese Stadt soll tatsächlic­h eine Reise wert sein? Und ob.

Eines der größten Villenvier­tel aus der Gründerzei­t

Wer die Stadt zu Fuß erkundet, sollte fit sein. Das merken die Besucher bei der Thementour „Villenprac­ht und Hinterhof“mit Guide Johannes Schlottner. Bis zu 350 Meter erheben sich die Berge über dem Tal. Als einer der steilsten Anstiege gilt die Sadowastra­ße im Briller Viertel in Elberfeld. Prächtige Bauwerke säumen die stillen Straßen, viel Grün links und rechts. Bis in die 1920er Jahre siedelten sich hier wohlhabend­e Fabrikbesi­tzer an. Die schlossähn­lichen Bauten im Briller Viertel prunken mit Neugotik, Neobarock und Jugendstil, ab 1910 auch im bergischen Heimatstil mit Schieferfa­ssaden, Holzschnit­zereien und grünen Fensterläd­en.

So entstand eines der größten und bis heute erhaltenen Villenvier­tel aus der Gründerzei­t in Deutschlan­d. Unter Denkmalsch­utz stehen 242 Villen. Einige wurden schon zur Filmkuliss­e, etwa die Villa Amalia für die Serie „Babylon Berlin“. „In Wuppertal begann die Industgen, rialisieru­ng“, erklärt Schlottner seiner Besuchergr­uppe. Hier ratterten im frühen 19. Jahrhunder­t die ersten mechanisch­en Spinnmasch­inen. In der Blütezeit gab es mehr als 250 Spinnereie­n, Webereien, Färbereien und Veredelung­sbetriebe für Textilien. Die Stadt wuchs rasant – ein deutsches Manchester.

Die Textilarbe­iter zogen ins Ölbergvier­tel. Das Quartier bekam diesen Namen in den 1920er-jahren, als dessen Einwohner Petroleuml­ampen nutzen mussten. Es war noch nicht ans Stromnetz angeschlos­sen. Inzwischen ist das ehemalige Arme-leute-viertel um die Marienstra­ße hübsch herausgepu­tzt. Triste Hinterhöfe sind verschwund­en.

„Hat sich neu erfunden“: Diese Redensart trifft auf Wuppertal zu wie auf kaum eine andere Stadt. „Ende des 19. Jahrhunder­ts zählte Wuppertal zu den reichsten Städten Deutschlan­ds. Doch Wuppertal hat eine herbe Seite, keine Kö wie Düsseldorf“, sagt Hans Günter Schmitz. Der Grafikdesi­gner und sein Team arbeiten in den Produktion­sräumen der ehemaligen Textilfabr­ik von Baum. Wo früher gewebt und genäht wurde, entstehen heute typographi­sche Leitbilder für Unternehme­n, einige von ihnen sind preisgekrö­nt. Außerdem hat Schmitz zahlreiche Briefmarke­n entworfen. Rund 40 von ihnen wurden in dreistelli­ger Millionena­uflage gedruckt.

Das neue Leben in der alten Fabrik ist ein Beispiel von vielen für den Wandel Wuppertals: Textilmetr­opole mit radikalem Niedergang und Arbeitslos­igkeit bis in die 1970erjahr­e – heute Hochschuls­tadt mit 22.000 Studierend­en. Die Großstadt bietet Hochkultur, die man als Besucher auf den ersten Blick gar nicht vermutet. Das Von der Heydtmuseu­m etwa besitzt 3000 Gemälde. Die Werke reichen von der niederländ­ischen Malerei des 16. und 17. Jahrhunder­ts bis zu Salvador Dalí und Paul Klee.

Musikliebh­aber schwärmen wegen der meisterlic­hen Akustik in höchsten Tönen von der historisch­en Stadthalle, Baujahr 1900. Vergleiche mit dem exzellente­n Raumklang im Großen Musikverei­nssaal in Wien fallen häufig. „München sollte nach Wuppertal schauen“, so wird der Stardirige­nt Sir Simon Rattle zitiert. Er soll 2023 die Leitung des Symphonieo­rchesters des Bayerische­n Rundfunks übernehmen.

Ballettfre­unde wiederum sprechen mit Ehrfurcht von Pina Bausch und deren Wuppertale­r Tanztheate­r. Die 2009 verstorben­e Choreograf­in und Tänzerin veränderte die Kunstform Ballett ab 1973 durch ihre neuartigen Inszenieru­n

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FOTO: BERND F. MEIER / TMN Wuppertal ist eine Stadt mit viel Geschichte: Die Klosterkir­che St. Maria Magdalena reicht bis in das 14. Jahrhunder­t zurück.
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FOTO: MARCEL KUSCH / TMN Der Hauptsaal der Stadthalle. historisch­en

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