Der stillgelegte Alltag
Warum die Pflegekräfte in Zella-mehlis dem Winter mit gemischten Gefühlen entgegensehen
Zella-mehlis. Aus ihrem Fenster schaut Irmgard Grüschow auf den Lerchenberg. Vorhin, sagt sie, fiel die Sonne auf die Bäume, sie haben geleuchtet wie Gold. An diesem Blick kann sie sich wieder erfreuen, am gemeinsamen Kaffeetrinken im Gemeinschaftsraum auch. Die 88Jährige war an Corona erkrankt; es war, wie es Mediziner nennen, ein leichter Verlauf.
Einige Zimmer weiter wohnt Hildegard Zapke, 94 Jahre alt, auch sie hat das Virus überstanden. So schwach wie in diesen Tagen hat sie sich noch nie gefühlt, erzählt sie. Aber noch schlimmer war die Einsamkeit in ihrem Zimmer. Das ist kein Vorwurf. Sie hat als Krankenschwester gearbeitet, hat eine Ahnung, was diese Zeit den Pflegekräften abverlangt. Von einem Foto lächelt ihre Enkelin. In dieser Woche konnten sie sich wieder sehen. Die Tage davor waren noch länger als sonst. Der Fernseher lief, ab und zu ein Kreuzworträtsel. Dazwischen das Grübeln. Gedanken, die nicht immer gut sind, sagt sie.
Aber das sei ja nun vorbei, überstanden, nur noch zwei Erkrankte im anderen Wohnbereich. Ihr Blick sucht Bestätigung bei der Heimleiterin. Es sind fünf, korrigiert Petra Werner leise. Fünf? So etwas Heimtückisches, Hinterhältiges, empört sich Hildegard Zapke. Als hätte das Virus ein Gesicht.
Am 5. Oktober stellten sie im Pflegeheim den ersten Corona-fall fest. Keine Symptome, es war ein Routine-test. In den folgenden Tagen traf es zwanzig Bewohnerinnen und Bewohner, fast alle im Wohnbereich. Inzwischen geht es ihnen wieder gut, sagt Petra Werner, es waren milde Verläufe. Bis auf eine Frau, die verstarb, sie gehörte zu den wenigen ungeimpften Bewohnern.
Der erste Ausbruch war eine traumatische Erfahrung
Bis zum 8. November war der Alltag in diesem Wohnbereich stillgelegt, mittlerweile ist er zurück. Im zweiten sind fünf Bewohner erkrankt, der dritte ist coronafrei. So der Stand am Anfang voriger Woche. Vielleicht, bemerkt die Heimleiterin, sind wir durch. Eine vorsichtige Hoffnung, der sie selbst nicht ganz traut. Es gibt zu viele „vielleicht“und zu viele Erinnerungen.
Bitte nicht wie damals: Das war ihr erster Gedanke nach dem ersten positiven Befund vor sieben Wochen. „Damals“, das war der erste Corona-ausbruch im Pflegeheim, der die Bewohner und Pflegekräfte brutal traf. Er begann am 4. Dezember vergangenen Jahres, am 4. März wurde die letzte Quarantäne aufgehoben. Sie muss nicht nachdenken, diese Daten vergisst man nicht.
Von den 84 Bewohnern mussten viele ins Krankenhaus, viele verstarben dort. Wie viele? Keine Zahl, bitte. Als würde sie gedruckt noch einmal so schwer wiegen. Nur so viel: Sie war zweistellig.
Im Heim stand der Alltag still. Keine Besuche, keine gemeinsamen Mahlzeiten, keine Beschäftigung. Die leeren Betten in den Zimmern. Die Machtlosigkeit. Kaum auszuhalten, all das. Erst als der Ausbruch vorbei war, konnten sie sich verabschieden, mit einer Feier, mit Musik und mit den Namen der Verstorbenen. Es gab Tage, da waren 14 Mitarbeiter gleichzeitig in Quarantäne oder selbst erkrankt. Die Bundeswehr schickte Helfer, das war auch mental eine große Stütze. Ihr seid nicht allein.
An der Gartentür baute der Hausmeister später aus Holzpaletten eine Hütte mit einer Fensterscheibe in der Trennwand für Besuche. Am 4. Februar kam das Impfteam ins Haus, vier Wochen später noch einmal. Der Frühling und der Sommer liefen gut, kein einziger Fall. Im September wurde die Besucherhütte abgebaut. Dann kam der Oktober.
Vier Wochen lang musste das Haus für Besuche geschlossen bleiben. Ein Szenario, von dem es doch einen Sommer lang hieß, es dürfe sich nicht wiederholen.
Von ihren Pflegekräften mussten in diesem zweiten Ausbruch bislang neun in Quarantäne, und das immer zwei Wochen lang. Sieben erkrankten an Corona. Das in den Dienstplänen aufzufangen, sagt Petra Werner, geht nur mit Teamgeist.
Den Impfstatus ihrer Mitarbeiter durfte sie nicht abfragen, doch sie weiß, dass nicht alle geimpft sind. Aber immer getestet, fügt sie hinzu, täglich. Die Diskussionen um einen Impfzwang für Pflegekräfte findet sie problematisch. Spricht von den aufwendigen Schutzmaßnahmen, von freiwilligem Verzicht auf Vieles in der Freizeit, den sie sich selbst auferlegen, um keine Ansteckung zu riskieren. Wenn schon, dann müsse ein Impfzwang für alle gelten. Sie will sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn er nur ihre Berufsgruppe beträfe, wie viele Kolleginnen und Kollegen womöglich Konsequenzen ziehen würden, vor denen sich jede Pflegeheimleitung fürchtet. Aus dem Stand könnte sie im Heim ein oder zwei zusätzliche Pflegefachkräfte einstellen. Wenn es sie denn gäbe. Sie sei froh, dass nach den traumatischen Erfahrungen des ersten Ausbruchs niemand das Handtuch geworfen hat.
Einrichtungen brauchen nicht erst seit Corona mehr Personal Aussteigen? Daran, bekennt die Fachpflegerin Christin Molecki, habe sie gedacht, als sie vom zweiten Corona-ausbruch erfuhr. Aber nur als ein erstes Gefühl, kein Plan. Durch das Fenster des mit Dienstplänen vollgehängten Büros kann sie die Bewohner beim Nachmittagskaffee sehen. Vier Wochen war ihnen diese Gemeinschaft verwehrt. Sie rennt über den langen Flur, die Zeit im Nacken: Das bleibt als Grunderinnerung an die Phase, als im Wohnbereich das Virus grassierte. Schutzausrüstung anlegen, das ganze Programm vom Plastikvisier bis zu den Handschuhen vor jedem Zimmer. Die Grundversorgung, Waschen, Medikamente, das Essen. Viele mussten im Bett liegen, einige haben ihren Lebensmut verloren. Man müsste bei ihnen bleiben, zuhören, reden, trösten. Aber dafür ist kaum Zeit; hinter der nächsten Tür wartet auch ein Bewohner und auf die Hilfskräfte aus dem Leasingunternehmen warten sie vergeblich. Auf dem Heimweg das nagende Gefühl, den Menschen nicht die Aufmerksamkeit geben zu können, die sie brauchen. Zu Hause duschen, die Couch, nur Müdigkeit. Wir brauchen, sagt sie, mehr Personal in der Pflege. Nicht erst seit Corona, aber nun gerade. Darum muss sich die Politik kümmern.
Der Advent hat begonnen. Eine emotionale Zeit für die Menschen hier, weiß Petra Werner. Es wird in den Wohnbereichen eine kleine Feier geben. Bestenfalls. Wir planen, bemerkt sie, immer mit zwei Varianten und von Tag zu Tag. Die Diskussionen um die Weihnachtsmärkte der vergangenen Tage müssen sich hier anfühlen wie Nachrichten aus einer Parallelwelt. Wenn ich an den bevorstehenden Winter denke, bemerkt sie, sind meine Gefühle sehr gemischt.
In ihrem Zimmer greift Hildegard Zapke entschlossen nach dem Rollator. Ich habe mich durchgeboxt und heute Nachmittag wird gewürfelt, sagt sie und macht sich mit kleinen Schritten auf den Weg.