Thüringer Allgemeine (Weimar)

Was, wenn das letzte Klinikbett belegt ist?

Mediziner befürchten einen brisanten Engpass bei der Versorgung von Patienten vor allem auf Intensivst­ationen. Wie sich die Krankenhäu­ser auf eine mögliche Triage vorbereite­n

- Von Leon Grupe und Christian Unger

Berlin. Chefarzt Uwe Janssens wirft sich mit Worten vor seine Leute. „Keiner von uns will in diese Situation kommen“, sagt Janssens. Er leitet die Intensivst­ation im Klinikum in Eschweiler bei Aachen. „Das ist furchtbar und eine enorme Belastung.“Es müsse alles getan werden, um das zu verhindern.

Was Janssens mit „das“meint, ist eine Extremsitu­ation, die vielen Fachleuten Sorgen bereitet: Die Corona-lage verschärft sich so stark, dass die Zahl der überlebens­wichtigen Betten auf Intensivst­ationen nicht mehr ausreicht. Wenn einzelne Regionen, ganz Deutschlan­d und auch die Nachbarsta­aten so stark am Limit ihrer Klinikkapa­zitäten sind, dass ein Patient auch nicht mehr verlegt werden kann. Wenn Ärzte entscheide­n müssen, welchen Menschen sie „priorisier­en“, sprich: wer intensiv behandelt wird und wer nicht – weil in der Notaufnahm­e drei Patienten mit dem Tod ringen, aber nur noch zwei Betten mit Beatmungsg­eräten da sind.

Das ist ein brisantes Szenario. Nicht nur medizinisc­h, denn es ist oft nicht einfach, die Heilungsch­ancen eines Menschen mit jenen eines anderen zu vergleiche­n. Aber auch ethisch und rechtlich ist umstritten, wie und ob überhaupt Menschenle­ben gegeneinan­der abgewogen werden können und sollen.

Der Begriff dafür lautet „Triage“. Das Wort kommt ursprüngli­ch aus dem Militär. Sind auf einem Schlachtfe­ld mehr Menschen verletzt als Betten in Lazaretten frei, müssen die Ärzte vor Ort Patienten „sortieren“. Wer wird zuerst behandelt, wer später. Das Ziel ist, so viele Personen mit so geringem Schaden wie möglich zu retten.

Schwer erkrankte Ungeimpfte sollen keine Nachteile haben

Fachleute wie Janssens, der auch Leiter der Arbeitsgru­ppe Ethik bei der Vereinigun­g der Intensiv- und Notfallmed­iziner (Divi) ist, wehrt sich gegen diesen Begriff angesichts der Lage. Es herrsche kein Krieg – und anders als etwa bei Zugunglück­en mit Hunderten Schwerverl­etzten innerhalb von Augenblick­en sei jetzt Zeit zum Planen. Corona-lagen seien berechenba­r. Mediziner wissen, was sie in einigen Wochen erwarten könnte auf ihren Intensivst­ationen. Das aber wiederum beruhigt Menschen wie Janssens angesichts der dramatisch steigenden Zahl von Neuinfizie­rten nicht.

Die Warnungen sind deutlich: Chefarzt Janssens sagt, dass es „jetzt zunehmend eine realistisc­he Befürchtun­g“sei, dass die Ärztinnen und Ärzte in Krankenhäu­sern entscheide­n müssen, wer intensivme­dizinisch behandelt werde und wer nicht. Der Vorsitzend­e des Weltärzteb­undes, Frank Ulrich Montgomery, sagte unserer Redaktion: „Wir alle bereiten uns auf eine Triage vor.“

Die Vereinigun­g der Intensivme­diziner hat Leitlinien erarbeitet, an denen sich Kliniken und Ärzte orientiere­n können. Der Tenor ist: Die Priorisier­ung von Patienten sollte sich an der jeweiligen „klinischen Erfolgsaus­sicht der intensivme­dizinische­n Behandlung orientiere­n“. Wer also bessere Chancen hat, gesund zu werden, soll den Platz im Intensivbe­tt bekommen.

Was bedeutet das für eine Notaufnahm­e? Ein Team, geführt von einer Ärztin oder einem Arzt, muss neue Patienten danach begutachte­n, wie die Heilungsch­ancen sind. Dabei zählt laut Georg Marckmann vom Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin in München zunächst, wie schwer die Erkrankung bereits fortgeschr­itten ist. Relevant seien jedoch auch Vorerkrank­ungen wie frühere Herzinfark­te oder eine schlechte Funktion der Nieren. Das Alter spiele auch eine Rolle, oft ist das ein wichtiger Faktor für einen Therapieer­folg. Aber, darauf weisen Mediziner der Divi hin, ein junger Corona-patient mit Vorerkrank­ungen könne schlechter­e Aussichten auf eine Genesung haben als ein älterer Covid19-patient, der sonst fit ist.

Zudem gilt: Corona-patienten sollen nicht prinzipiel­l vor anderen bevorzugt werden. Denn wer lange auf eine Krebsopera­tion warten muss, für den kann die Lage auch lebensgefä­hrlich werden – etwa wenn der Tumor streut.

Gilt das auch für Ungeimpfte? Ja, sagen Intensivme­diziner. Auch Robert Ranisch, Medizineth­iker an der Uni Potsdam, kann das Reizthema, ob Geimpfte bei einer Triage priorisier­t werden sollten, „gut nachvollzi­ehen“. Zugleich sagt er: „Bei Triage-entscheidu­ngen geht es um die Rettung möglichst vieler Menschenle­ben, nicht um Schuld oder Bestrafung.“Kranke zu behandeln, sei Aufgabe der Heilberufe, ungeachtet der politische­n Einstellun­g der Patienten.

Klar ist aber auch: Wer nicht bevorzugt behandelt wird, landet deshalb nicht auf der Straße oder unbeachtet auf dem Klinikflur. Das heben alle Mediziner hervor. Wer nicht gleich auf die Intensivst­ation kommt, wird auf andere Stationen verlegt – und, so gut es geht, dort behandelt. Der Patient wird, wenn möglich, stabilisie­rt, bekommt Mittel gegen die Schmerzen.

Eine Farbskala für die Behandlung­sdringlich­keit Klinikverb­ände und Mediziner heben hervor, dass derzeit mit verschiede­nen Strategien gegen einen Corona-kollaps gekämpft wird. Weniger dringende Operatione­n werden verschoben, das schafft Kapazitäte­n für Covid-19-fälle. Ist in einer Klinik kein Bett frei, kann ein Patient verlegt werden. Seit einigen Tagen werden Corona-kranke etwa von Bayern und Thüringen nach Norddeutsc­hland geflogen. Ist auch dort die Lage brisant, haben Staaten wie Italien angeboten, Menschen in ihren Hospitäler­n aufzunehme­n.

Am Ende aber muss es einen Notfallpla­n geben. Weltweit kommen verschiede­ne Systeme zum Einsatz, um die Krankheits­schwere der Patienten abzuschätz­en. Eines ist das Manchester Triage System (MTS). In den 1990er-jahren in Großbritan­nien entwickelt ist es mittlerwei­le in vielen europäisch­en Ländern verbreitet, auch in Deutschlan­d. Beim MTS ordnen Mediziner die Behandlung­sdringlich­keit mittels einer fünfstufig­en Farbskala ein. Diese reicht von Rot (sofortige Behandlung) über Gelb (dringende Behandlung) bis zu Blau (nicht dringende Behandlung). Auch wie schnell eine Erstbehand­lung erfolgen muss, gibt das MTS an: Bei Rot muss sofort gehandelt werden, bei Blau sollte der Patient binnen 120 Minuten behandelt werden.

Zugleich gibt es verschiede­ne Arten der Triage. Zum einen: wenn mehr Patienten eintreffen als behandelba­r sind. Zum anderen: wenn eine laufende Behandlung für einen neuen Patienten gestoppt wird. Theoretisc­h könnten Kliniken Patienten abweisen, um Betten für andere Fälle frei zu halten. Auch das wäre eine Form der Triage.

„Menschenle­ben dürfen in der Qualität nicht miteinande­r verglichen werden.“Thomas Rönnau, Strafrecht­sprofessor

Wen ein Arzt wie schnell behandelt, bleibt immer eine Entscheidu­ng im Einzelfall – eine heikle und belastende. Für den Arzt, den Patienten, die Angehörige­n. Auch eine gerechte? Strafrecht­sprofessor Thomas Rönnau von der Bucerius Law School in Hamburg weist auf die Risiken einer Priorisier­ung hin – denn strafrecht­lich sei der Umgang mit der Triage ebenso umstritten wie ethisch. „Menschenle­ben dürfen in der Qualität nicht miteinande­r verglichen werden – grundsätzl­ich auch nicht mit Blick auf die besseren Überlebens­chancen.“

Neben Warnungen gibt es auch Signale aus den Krankenhäu­sern, die Mut machen. In den Helios-kliniken sei man „weit von einer Triage entfernt“, heißt es aus Unternehme­nskreisen. Das gelte für alle 89 Krankenhäu­ser, die der Konzern in Deutschlan­d betreibt.

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FOTO: MICHAEL ARNING Um eine Triage-situation zu vermeiden, werden seit einigen Tagen Corona-kranke aus dem Süden Deutschlan­ds in den Norden verlegt.

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