Die Maßgaben dieser Welt
Meiningens Kammerspiele haben eine überzeugende „Antigone“– aber keinen Gegner
Meiningen. Hinten, hinter den Fenstern, die die Wand mit der Trümmerlandschaft durchbrechen, sitzen sie an einem langen Tisch. Kerzen schimmern, die Becher sind gefüllt. Freude, Trauer? Musik grummelt düster, sie kommt von sehr weit her. Ein Abendmahl, wie es einst Christus gab. Aber diese Geschichte ist 500 Jahre älter.
Sophokles (496/406 v. Chr.) ist so etwas wie der Marmor der Weltdramatik. Antigones „Zu hassen nicht, zu lieben bin ich da“(sie spielen die Übersetzung von Heinz Oliver Karbus, mit einem weniger hohen Ton ), hallt, runde 500 Jahre vor der Bergpredigt, uneingelöst durch die Jahrtausende, die die Sittlichkeit des Einzelnen nicht versöhnen können mit der Räson des Staates.
Das Recht des Staates gegen das des Individuums
Ein Staatsbegräbnis für Eteokles, der den Staat verteidigte. Sein Bruder Polyneikes aber, der den Staat attackierte, wird zum Geierfraß bestimmt. Antigone jedoch, die Schwester, wird den Bruder dennoch bestatten. Staatsräson gegen individuelle Sittlichkeit.
Elina Finkel hat diese Antigone, auf der Bühne von Vesna Hiltmann, in Meiningens Kammerspielen inszeniert und Bilder gefunden, die dem Publikum weithin unvertrauten Text zur Wirkung verhelfen, zur sinnlichen Anschauung.
Und sie erzählt, wie auch sonst, von einer Antigone, die sich rücksichtslos, rücksichtslos gegen sich und den Rest der Welt, wirft gegen die Maßgaben dieser Welt. Sie erbringt ein Opfer, das größte: sich.
Das Urteil ist gefallen. Die beiden Frauen begießen die dritte, sie trägt nur die Unterwäsche, mit Wasser. Sie waschen Antigone, die in der Wanne hockt, die Haare, sie säubern ihr die Nägel, eine rituelle Waschung der zum Tode Bereiteten.
Dann fährt die Wand nach vorn, verengt den Raum. Und im Licht sitzt einsam Miriam Haltmeier, intensiv, eindringlich, die Schmerzensfrau zum Tode hin, die Kreatur, die trauernd den Preis entrichtet, da sie tat, was nicht zu tun sie nicht vermocht hätte. Hier hat der Abend seine Höhe, hier, mit Miriam Haltmeier,
seine Mitte. Und, in gewisser Weise, sein Problem. Das Recht des Staates gegen das des Individuums, das Interesse der Gemeinschaft, der bedrohten Stadt, gegen das des Einzelnen.
Da sind die Assoziationen, am Abend vor der Premiere gab es einen Polizeieinsatz in Hildburghausen, am Abend danach Tränengas in Eisenach. Corona, da liegen vielfältige Aufladungen im aktuellen Erfahrungsbereich, ohne Sophokles platt kurzzuschließen mit uns. Aber dieser und jeder andere Konflikt wird kaum wirklich ausgetragen. Denn Antigone hat, auch wenn das Programmheft es uns anders glauben machen will, keinen Partner auf Augenhöhe.
Gunnar Blume, das ist die Inszenierung, weißes Hemd, Anzug, spielt einen sehr gegenwärtigen
Kreon – und verfehlt dadurch die Höhe des Textes und der Todgeweihten, die ihm (auch Kostüme von Vesna Hiltmann) im schwarzen Dress und langem Haar begegnet. Blumes Kreon ist hektisch, schnelle Schritte. Er repliziert kurz, wie gezirkelt, er hat noch anderes zu tun.
Kreon wird zum Spielanlass der anderen
Den Sohn, als er ihn auf seiner Seite glaubt, springt er freudig an. Das lässt sich begründen mit gegenwärtigem Pragmatismus, indessen, es banalisiert die Figur.
Antigone hat etwas Archaisches, eine Höhe, Kreon nicht. Natürlich, am Ende wird Antigone immer siegen, moralisch, aber hier ist der Kampf entschieden mit dem ersten Auftritt. Nur in der Erschütterung, der erkannten Selbstzerstörung, da zeigt Gunnar Blume seine Möglichkeiten. Sonst ist er überwiegend der Spielanlass der anderen.
Für Evelyn Fuchs und Anja Lenßen als vorzüglicher Chor, hier gelingt die Vereinfachung, ohne an Höhe zu verlieren. Für Leo Goldberg, der Seher Teiresias, der in Klarheit raunt wie der Geist von Hamlets Vater in den Farben der Müllkippe. Für Jan Wenglarz, der als Bote schließlich, halb Puck, halb Schmerzensmann, im Blutkostüm des Eteokles dem König das Ende kündet. Und schließlich für Emma Suthe, Ismene, die das Lebensrecht der Biederkeit verteidigt. Sie haben alle recht, auch Kreon. Aber dessen Recht, das sieht man nicht.
Wieder geplant für heute
(30. November) sowie für den 10., 22. und 26. Dezember.