Thüringer Allgemeine (Weimar)

Die Maßgaben dieser Welt

Meiningens Kammerspie­le haben eine überzeugen­de „Antigone“– aber keinen Gegner

- Von Henryk Goldberg

Meiningen. Hinten, hinter den Fenstern, die die Wand mit der Trümmerlan­dschaft durchbrech­en, sitzen sie an einem langen Tisch. Kerzen schimmern, die Becher sind gefüllt. Freude, Trauer? Musik grummelt düster, sie kommt von sehr weit her. Ein Abendmahl, wie es einst Christus gab. Aber diese Geschichte ist 500 Jahre älter.

Sophokles (496/406 v. Chr.) ist so etwas wie der Marmor der Weltdramat­ik. Antigones „Zu hassen nicht, zu lieben bin ich da“(sie spielen die Übersetzun­g von Heinz Oliver Karbus, mit einem weniger hohen Ton ), hallt, runde 500 Jahre vor der Bergpredig­t, uneingelös­t durch die Jahrtausen­de, die die Sittlichke­it des Einzelnen nicht versöhnen können mit der Räson des Staates.

Das Recht des Staates gegen das des Individuum­s

Ein Staatsbegr­äbnis für Eteokles, der den Staat verteidigt­e. Sein Bruder Polyneikes aber, der den Staat attackiert­e, wird zum Geierfraß bestimmt. Antigone jedoch, die Schwester, wird den Bruder dennoch bestatten. Staatsräso­n gegen individuel­le Sittlichke­it.

Elina Finkel hat diese Antigone, auf der Bühne von Vesna Hiltmann, in Meiningens Kammerspie­len inszeniert und Bilder gefunden, die dem Publikum weithin unvertraut­en Text zur Wirkung verhelfen, zur sinnlichen Anschauung.

Und sie erzählt, wie auch sonst, von einer Antigone, die sich rücksichts­los, rücksichts­los gegen sich und den Rest der Welt, wirft gegen die Maßgaben dieser Welt. Sie erbringt ein Opfer, das größte: sich.

Das Urteil ist gefallen. Die beiden Frauen begießen die dritte, sie trägt nur die Unterwäsch­e, mit Wasser. Sie waschen Antigone, die in der Wanne hockt, die Haare, sie säubern ihr die Nägel, eine rituelle Waschung der zum Tode Bereiteten.

Dann fährt die Wand nach vorn, verengt den Raum. Und im Licht sitzt einsam Miriam Haltmeier, intensiv, eindringli­ch, die Schmerzens­frau zum Tode hin, die Kreatur, die trauernd den Preis entrichtet, da sie tat, was nicht zu tun sie nicht vermocht hätte. Hier hat der Abend seine Höhe, hier, mit Miriam Haltmeier,

seine Mitte. Und, in gewisser Weise, sein Problem. Das Recht des Staates gegen das des Individuum­s, das Interesse der Gemeinscha­ft, der bedrohten Stadt, gegen das des Einzelnen.

Da sind die Assoziatio­nen, am Abend vor der Premiere gab es einen Polizeiein­satz in Hildburgha­usen, am Abend danach Tränengas in Eisenach. Corona, da liegen vielfältig­e Aufladunge­n im aktuellen Erfahrungs­bereich, ohne Sophokles platt kurzzuschl­ießen mit uns. Aber dieser und jeder andere Konflikt wird kaum wirklich ausgetrage­n. Denn Antigone hat, auch wenn das Programmhe­ft es uns anders glauben machen will, keinen Partner auf Augenhöhe.

Gunnar Blume, das ist die Inszenieru­ng, weißes Hemd, Anzug, spielt einen sehr gegenwärti­gen

Kreon – und verfehlt dadurch die Höhe des Textes und der Todgeweiht­en, die ihm (auch Kostüme von Vesna Hiltmann) im schwarzen Dress und langem Haar begegnet. Blumes Kreon ist hektisch, schnelle Schritte. Er repliziert kurz, wie gezirkelt, er hat noch anderes zu tun.

Kreon wird zum Spielanlas­s der anderen

Den Sohn, als er ihn auf seiner Seite glaubt, springt er freudig an. Das lässt sich begründen mit gegenwärti­gem Pragmatism­us, indessen, es banalisier­t die Figur.

Antigone hat etwas Archaische­s, eine Höhe, Kreon nicht. Natürlich, am Ende wird Antigone immer siegen, moralisch, aber hier ist der Kampf entschiede­n mit dem ersten Auftritt. Nur in der Erschütter­ung, der erkannten Selbstzers­törung, da zeigt Gunnar Blume seine Möglichkei­ten. Sonst ist er überwiegen­d der Spielanlas­s der anderen.

Für Evelyn Fuchs und Anja Lenßen als vorzüglich­er Chor, hier gelingt die Vereinfach­ung, ohne an Höhe zu verlieren. Für Leo Goldberg, der Seher Teiresias, der in Klarheit raunt wie der Geist von Hamlets Vater in den Farben der Müllkippe. Für Jan Wenglarz, der als Bote schließlic­h, halb Puck, halb Schmerzens­mann, im Blutkostüm des Eteokles dem König das Ende kündet. Und schließlic­h für Emma Suthe, Ismene, die das Lebensrech­t der Biederkeit verteidigt. Sie haben alle recht, auch Kreon. Aber dessen Recht, das sieht man nicht.

Wieder geplant für heute

(30. November) sowie für den 10., 22. und 26. Dezember.

 ?? FOTO: CHRISTINA IBERL / THEATER MEININGEN ?? „Antigone“mit Miriam Haltmeier in der Titelrolle und Anja Lenßen als Chorfrau.
FOTO: CHRISTINA IBERL / THEATER MEININGEN „Antigone“mit Miriam Haltmeier in der Titelrolle und Anja Lenßen als Chorfrau.

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