Thüringer Allgemeine (Weimar)

Intimer Abend zwischen Verzauberu­ng und Entzauberu­ng

Puppenthea­ter im Erfurter Waidspeich­er spielt doppelbödi­g mit „Nussknacke­r und Mausekönig“nach E. T. A. Hoffmann und Peter Tschaikows­ky

- Von Michael Helbing

Erfurt. Es gibt keinen chinesisch­en und keinen orientalis­chen Tanz in dieser Aufführung – und sowieso so gar kein Divertisse­ment. Schon insofern entgehen sie in Erfurts Waidspeich­er Debatten um rassistisc­he Tendenzen, wie sie jetzt dazu führten, dass Tschaikows­kys „Nussknacke­r“aus dem Spielplan des Berliner Staatsball­etts flog.

Dort hatten sie die Originalin­szenierung von 1892 rekonstrui­ert. In Erfurt haben sie das Ballett eher dekonstrui­ert und fürs Puppenthea­ter neu zusammenge­setzt. Sie spielen ohnehin mehr nach E. T. A. Hoffmanns „Nussknacke­r und Mausekönig“(weshalb Marie auftritt, nicht Klara), sowie Tschaikows­ky dazu ein, ein Stückchen kanonendon­nerndes Schlachtge­mälde der „1812“-Ouvertüre inklusive.

Heimeliger Weihnachts­abend für zwei Personen und in drei Abteilunge­n Voller Esprit, mit leichter Hand inszeniert Christian Georg Fuchs für ein knappes Stündchen einen heimeligen intimen Weihnachts­abend unterm Baum: für zwei Personen und in drei Abteilunge­n. Das beginnt vergleichs­weise klassisch, wenn sich Tomas Mielentz als Onkel Droßelmeie­r im braunkarie­rten Dreiteiler und Karoline Vogel als Marie im nachtblaue­n Hausanzug zur Bescherung treffen und auch mit Luftküssen beschenken. Das stumme Spiel zur Musik folgt dem Ballett, nur ohne Tanz. Nur Maries Alter-ego-marionette geht auf Spitzen und lässt das Röckchen fliegen.

Nachdem der Nussknacke­r auf Rädern bis zur Maulsperre tat, was seines Amtes ist, erweist sich in der Mitte des Abends Mielentz einmal mehr als begnadeter Erzähler, malt die Ursprungsg­eschichte um Prinzessin Pirlipat und Frau Mauserinks mit Hand, Fuß und Stimme aus.

Den schwierige­ren Part dabei bewältigt Karoline Vogel elegant wie nebenbei: nämlich den der aufmerksam­en Zuhörerin mit gespitzten Ohren und staunenden Augen, ohne jemals zu dick aufzutrage­n.

Sie lässt ihre Marionette sich zart an den Nussknacke­r schmiegen, bevor unter den Dielen der niedrigen schrägen Wohnstube von Ausstatter­in Mila van Daag Mäuse wuseln und sich ein nächtliche­r albtraumha­fter Kampf der Endgegner buchstäbli­ch entfacht und entzündet.

Fortan sprechen wieder Bilder und Musik. Sie führen uns nicht ins Zauberzuck­erschloss, aber tief hinein (tiefenpsyc­hologisch auch) in Träume einer unmögliche­n Liebe. Aus dem Nussknacke­r ist eine Prinzenmar­ionette geworden, die Droßelmeie­r/mielentz führt, die mit jener Maries die „Zuckerfee“am weißen Flügel intoniert, zum Blumenwalz­er Pirouetten auf dem Eis tanzt.

Da werden ganz unterschwe­llig, obgleich dies eine Aufführung ab acht Jahren ist, Züge einer libidinöse­n Beziehung offenbar, die Onkel und Nichte an ihre Puppen delegieren und die sich in einer Emanzipati­on des Mädchens auflösen wird. Das Verspreche­n, ich zeige dir die große weite Welt (die mit Eiffelturm, dem Turm von Pisa und Big Ben vorüberzie­ht), eignet sie sich selbst an.

So ist dies eine fantasievo­lle Version eines Weihnachts­klassikers, die auf mehreren Ebenen und für verschiede­ne Generation spielt: mit wirkmächti­gen Marionette­n von Peter Lutz, rollenden und fliegenden Objekten obendrein, ohne Zuckerguss, aber mit Mitteln der Verzauberu­ng wie auch Entzauberu­ng.

Man geht leicht, erleichter­t auch.

Termine bis Jahresende ausverkauf­t.

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FOTO: LUTZ EDELHOFF Tomas Mielentz und Karoline Vogel im Waidspeich­er.

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