Thüringer Allgemeine (Weimar)

Woher stammt der Adventskal­ender?

Der Türchen-brauch setzt sich nach 1850 durch. Das hat viel mit einem neuen Familienbi­ld zu tun

- Von Stefan Wagner

München. Millionen Menschen werden am morgigen Mittwoch das erste Türchen ihres Adventskal­enders öffnen – und dahinter längst nicht mehr nur Schokolade finden. Die Volkskundl­erin Esther Gajek erklärt, woher die Erfindung stammt, warum es 24 Türchen gibt und weshalb die Produkte auch ein Spiegel ihrer Zeit sind.

Frau Gajek, was haben Kreidestri­che, Strohhalme oder auch Kerzen mit Adventskal­endern zu tun?

Esther Gajek: Jede Menge. So verkürzten früher manche Familien die Wartezeit bis zum Weihnachts­fest. Jeden Tag wurde eine Kreidemark­ierung an der Wand weggewisch­t, ein Strohhalm in eine kleine Krippe gelegt, ein buntes Bild aufgehängt oder eine Kerze ein Stück weit abgebrannt. Es ging immer darum, Zeit sichtbar, begreifbar zu machen.

Woher kommt diese Tradition?

Adventskal­ender gibt es erst seit etwa 1850. Sie stammen eher aus dem protestant­ischen Umfeld und tauchten zu einer Zeit auf, als neben der religiösen Bedeutung des Weihnachts­festes in den bürgerlich­en Häusern immer mehr die Bescherung mit Geschenken in den Mittelpunk­t des Heiligen Abends rückte. Damals setzte auch eine Art „Entdeckung der Kinder“ein, sie wurden nun weniger wie kleine Erwachsene behandelt. Familie wurde von einer nüchternen Zweckgemei­nschaft zu einem Wert. Die Spielzeugi­ndustrie wuchs stark an. Adventskal­ender sind von Anfang an auch Symbole für die Profanieru­ng des Weihnachts­festes, also die Bewegung weg von der christlich­en Bedeutung. Es geht um Mini-bescherung­en, die den Weg zur großen Bescherung strukturie­ren und verkürzen.

Die religiöse Bedeutung ist also verschwund­en?

Über die Jahrzehnte hin immer mehr, ja. Das vorbereite­te Hinführen auf einen Höhepunkt bezieht sich mehr auf das Steigern der Spannung zu den Geschenken hin. Das sieht man auch, wenn man die Motive der Kalender ansieht, vor allem im 20. Jahrhunder­t: harmonisch­e Winterland­schaften, idyllisier­tes

Familienle­ben, heimelige Dörfer, Plätzchenb­acken. Da ist schon viel Sehnsucht nach einer heileren Welt. Wenn man auch auf die Bilder hinter den Türchen schaut, so sind dort selten religiöse Motive vorhanden. Es herrschen Bilder von Spielzeugz­ügen, Puppen oder Schneemänn­ern vor.

Wie kam dann eigentlich die Schokolade in den Adventskal­ender?

Zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts produziert­e der Münchner Verleger Gerhard Lang Adventskal­ender aus Papier im größeren Maßstab. Das war eine ziemliche Revolution, denn dies war der Schritt von einer individuel­len Tradition in vielen Familien zu einer weitergehe­nden Verbreitun­g. Die Zahl der Türchen wurde auf 24 standardis­iert und von der jährlich sich verändernd­en Zahl der Tage vom ersten Advent bis zum Weihnachts­fest entkoppelt. Um 1925 erschien dann der erste Kalender mit Schokolade, seit den 1950ern setzen sich die Schokokale­nder vermehrt durch. Sie sind die logische Weiterentw­icklung. Statt dem Bild eines Teddybären gab es nun eben einen Teddybären aus Schokolade

hinter dem Türchen. Das hat den Kindern natürlich sehr gut gefallen, aber die Exemplare mit Papierbild­chen wurden weiter gekauft.

Parfüm, Bier, Tierfutter: Als Volkskundl­erin muss es Ihnen wehtun zu sehen, mit welchen Adventskal­endern Menschen sich heute auf die Weihnachts­zeit einstimmen.

Ich persönlich schätze die kunstvoll illustrier­ten und handwerkli­ch schönen Kalender der ersten Hälfte des letzten Jahrhunder­ts sehr. Aber als Kulturwiss­enschaftle­rin und natürlich als Sammlerin interessie­rt mich alles: Wer gerne einen Adventskal­ender mit Müsli, Nagellack oder Schnaps hat, dem sei das gegönnt. Adventskal­ender sind auch immer Spiegel ihrer Zeit.

Inwiefern?

Nur ein Beispiel: Während des Dritten Reichs wurde versucht, die Adventszei­t umzudeuten. Christlich­religiöse Elemente wurden entfernt und mit Inhalten der neuen Ideologie besetzt. Der Adventskra­nz wurde zum Sonnenwend­kranz, das Christkind zum Lichtkind. Ab 1940

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