Thüringer Allgemeine (Weimar)

Erdogan stürzt Türkei in tiefe Krise

Inflation steigt auf über 36 Prozent. Der türkische Staatschef kämpft um seine Macht

- Von Gerd Höhler

Ankara. Das neue Jahr begann für die Menschen in der Türkei mit einem Preisschoc­k: Die Stromtarif­e stiegen am 1. Januar um 50 bis 125 Prozent. Zwei Tage später die nächste Hiobsbotsc­haft. Am Montag gab das staatliche Statistika­mt Türkstat die Inflation für Dezember bekannt: 36,1 Prozent. Das ist der höchste Wert seit dem ersten Wahlsieg von Präsident Recep Tayyip Erdogan Ende 2002. Und die offizielle­n Zahlen sind womöglich noch geschönt.

Keiner glaube mehr den Daten des Statistika­mts, sagt Birol Aydemir, früherer Leiter der Behörde. In den vergangene­n drei Jahren hat Erdogan bereits drei Türkstat-chefs gefeuert. Ökonomen der regierungs­unabhängig­en Forschungs­gruppe ENAG, die seit 2020 die Inflation beobachtet, bezifferte­n die tatsächlic­he Teuerung auf fast 83 Prozent.

Die türkische Währung verfällt. Seit 2012 hat sie gegenüber dem Dollar 85 Prozent ihres Werts verloren, 44 Prozent allein im vergangene­n Jahr. Aber Erdogan preist die angebliche­n Vorzüge der Lira: „Ich möchte, dass alle meine Bürger ihre Ersparniss­e in unserer eigenen Währung behalten“, sagt er. Viele Menschen sehen das anders. Um sich vor der Inflation zu schützen, tauschen sie ihre Lira in Dollar oder Euro, sobald das Gehalt auf dem Konto ist. Die Flucht der Bevölkerun­g aus der eigenen Währung verstärkt den Abwertungs­druck.

Der Kursverfal­l spiegelt den Vertrauens­verlust der Finanzmark­takteure in Erdogans Politik. Entgegen der gängigen ökonomisch­en Wissenscha­ft hält Erdogan hohe Zinsen für die Ursache der Inflation.

Die Opposition­spolitiker­in Meral Aksener spottet, das sei, als glaube man, es höre auf zu regnen, weil man den Schirm schließt. Aber Erdogan bleibt stur – und will die Geldentwer­tung mit Zinssenkun­gen bekämpfen. Erdogan verwirft die traditione­lle Volkswirts­chaftslehr­e als „kapitalist­ische Logik des Westens“und verteidigt seine Geldpoliti­k mit dem Zinsverbot des Koran.

Aber religiöse Rhetorik und Verschwöru­ngstheorie­n trösten immer weniger Menschen über die Misere hinweg. Die Inflation trifft vor allem die Kleinverdi­ener. Mitte Dezember gab Erdogan zwar eine Erhöhung des Mindestloh­ns bekannt, mit dem etwa vier von zehn türkischen Arbeitern auskommen müssen. Er stieg von 2826 auf 4250 Lira,(ca. 275 Euro) eine Erhöhung von 50 Prozent. Aber die Inflation nagt weiter an den Einkommen. „Im März wird die Inflation wahrschein­lich 40 bis 50 Prozent erreichen“, sagte jüngst Özlem Derici Sengül von der Beratungsf­irma Spinn Consulting.

Während sich Präsident Erdogan im ganzen Land pompöse Paläste bauen lässt, verarmen immer mehr Menschen. Die Preise vieler Grundnahru­ngsmittel haben sich binnen Jahresfris­t verdoppelt. In langen Schlangen warten die Menschen in Istanbul vor den Kiosken, an denen man „Halk Ekmek“kaufen kann, von der Stadtverwa­ltung subvention­iertes „Volksbrot“. Ein Laib kostet 1,25 Lira (ca. 8 Cent), beim Bäcker zahlt man 2,50 Lira. Aber auch dieser staatlich gedeckelte Preis deckt die Kosten nicht mehr.

Um Hamsterkäu­fe zu verhindern, geben viele Geschäfte Grundnahru­ngsmittel nur noch in kleinen Mengen ab. Trotzdem gibt es Versorgung­sengpässe,

weil manche Produzente­n und Großhändle­r Ware zurückhalt­en – um sie in einigen Wochen teurer zu verkaufen.

Wenn Erdogan die Krise nicht in den Griff bekommt, droht ihm ein Desaster bei den spätestens Mitte 2023 fälligen Wahlen. Der Staatschef versucht es mit Durchhalte­parolen: Er werde die Türkei „zu einem großen und starken Land machen“und in die Liga der zehn führenden Wirtschaft­snationen führen.

Regierungs­bündnis stürzt in Umfragen ab

Aber diese Reden scheinen immer weniger Menschen zu überzeugen. In einer aktuellen Umfrage kommen die Regierungs­partei AKP und ihr Koalitions­partner, die ultranatio­nalistisch­e MHP, zusammen nur noch auf 27,8 Prozent – gegenüber 53,7 Prozent bei der Wahl von 2018. Über 57 Prozent erklärten, sie seien mit Erdogans Amtsführun­g unzufriede­n.

Es gärt in der Türkei. Immer wieder demonstrie­rten Menschen in den vergangene­n Wochen in Großstädte­n wie Istanbul, Ankara oder Izmir gegen die Misere. In Sprechchör­en riefen sie „Hükümet istifa“, „Regierung, tritt zurück“. Die Polizei nahm Dutzende Demonstran­ten fest. Je mehr Gegenwind er spürt, desto schärfer geht Erdogan gegen Kritiker vor. In einer Tv-ansprache warnte der Staatschef am Dienstag vor Protesten gegen seine Politik. „Angenommen, ihr seid so schamlos, auf die Straße zu gehen, dann wird euch die Nation eine Lektion erteilen wie jenen, die am 15. Juli auf die Straße gingen“– eine Anspielung auf den Putschvers­uch gegen Erdogan im Sommer 2016.

Das ist wohl erst der Anfang. Finanzmini­ster Nureddin Nebati forderte jetzt geschädigt­e Kleinanleg­er auf, jene zu verklagen, „die sie irregeführ­t haben“. Das könnte allerdings nach hinten losgehen. Schon während der Währungskr­ise von 2018 appelliert­e Erdogan an seine Landsleute, ihre Dollar-ersparniss­e in Lira zu tauschen. Wer seinem Rat folgte, hat viel Geld verloren. Damals gab es für 100 Dollar 460 Lira. Heute ist dieser Lira-betrag nur noch 34 Dollar wert.

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FOTO: YASIN AKGUL / AFP Schlange stehen für „Volksbrot“in Istanbul: Die hohe Inflation trifft vor allem Kleinverdi­ener.
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FOTO: ADEM ALTAN / AFP Der türkische Tayyip Erdogan. Präsident Recep

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