„Der Staat muss handeln, bevor es Tote gibt“
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) über die Omikron-herausforderung – und die eskalierenden Corona-proteste
Berlin/dresden. Dieser Freitag wird neue Corona-beschränkungen bringen. Welche, das entscheiden Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die 16 Ministerpräsidenten. Besonderes Gewicht hat dabei die Stimme des sächsischen Regierungschefs Michael Kretschmer (CDU).
Herr Ministerpräsident, die Omikron-welle türmt sich auf. Steuert Deutschland in den nächsten Lockdown?
Michael Kretschmer: Das hängt von der wirklichen Wucht dieser Omikron-variante ab. In anderen Ländern steigen die Zahlen bereits dramatisch. Viele Menschen können nicht mehr zur Arbeit gehen. Krankenhäuser, Feuerwehr, Stromversorgung kommen an die Grenzen ihrer Arbeitsfähigkeit. Wir müssen diese dramatische Spitze brechen. Das ist besonders wichtig in Regionen mit geringer Impfquote wie Sachsen.
An diesem Freitag schalten sich die Regierungschefs von Bund und Ländern zur Corona-konferenz zusammen. Wofür setzen Sie sich ein?
Wir brauchen vergleichbare Regelungen in der gesamten Bundesrepublik. Keine großen Veranstaltungen, keine Besucher in den Stadien – und ein Maß an Kontaktbeschränkungen, das diese Omikronwelle abflacht. Bars und Diskotheken zu öffnen, halte ich in den kommenden Wochen für verantwortungslos. Und wir brauchen finanzielle Entschädigungen für Betriebe und Einrichtungen, die von den Einschränkungen betroffen sind. Das muss das Ergebnis der Ministerpräsidentenkonferenz sein.
Müssen sich auch Geimpfte auf weitere Einschränkungen einstellen?
Wir sind gemeinsam in einem Boot. Wären alle geimpft, würde uns diese Omikron-variante wenig Sorgen machen. Die Realität ist natürlich, dass auch Geimpfte andere anstecken können. Gewisse Einschränkungen wird es für alle geben. Wir werden mehr 2G (also geimpft oder genesen) und mehr 2G plus (geimpft oder genesen und dazu noch getestet) haben.
Bleiben Restaurants und Geschäfte, Theater und Konzerthäuser offen?
Das muss unser Ziel sein. Für Gastronomie und Kultureinrichtungen halte ich 2G plus für eine gute Lösung. Und wer geboostert ist, kann auf den Test verzichten. Das Ganze muss auch praktikabel sein. Für die Grundversorgung kann man nicht 2G plus vorschreiben.
Kommt es wieder zu Schulschließungen?
Wechsel- und Distanzunterricht haben nicht die gleiche Qualität wie der Präsenzunterricht. Deswegen ist es absolut richtig, dass wir Schulschließungen als letzte Option ansehen. Wir wünschen uns alle miteinander, dass die Schulen offen bleiben. Wir setzen auf Masken und Tests – und appellieren an die Eltern, sich im privaten Umfeld so zu verhalten, dass sie sich nicht anstecken.
Sie haben auf die geringe Impfquote – gerade in Sachsen – hingewiesen. Welche Auswirkungen hätte eine allgemeine Impfpflicht?
Ich erwarte eine intensive Debatte im Deutschen Bundestag. Gruppenanträge aus der Mitte des Parlaments heraus haben im allgemeinen eine befriedende Wirkung. Wir müssen die Menschen, die sich partout nicht impfen lassen wollen, aus ihrer Ecke herausholen. Die wissenschaftlichen Fakten sind eindeutig. Der Impfstoff ist gut verträglich, und er schützt sehr gut. Impfverweigerer schaden nicht nur sich selbst, sondern der gesamten Gesellschaft.
Wie groß ist Ihre Sorge, dass die Corona-proteste mit einer Impfpflicht noch radikaler werden?
Wir haben einen gesellschaftlichen Konflikt, der ausgetragen und entschieden werden muss. Dass die Corona-schutzmaßnahmen mehrere Tausend Menschenleben gerettet haben, muss in der Debatte eine stärkere Rolle spielen. Jeder ist gefordert, sich einzubringen. Es gibt nicht nur das Recht des Individuums
auf Selbstbestimmung. Wir müssen auch das Wir stärken. Solidarität ist die Grundvoraussetzung für ein vernünftiges Leben in diesem Land.
Sie haben immer wieder das Gespräch mit Corona-leugnern gesucht – und dafür Morddrohungen bekommen. Ist Ihre Strategie gescheitert?
Es werden auch Bürgermeister, Journalisten, Wissenschaftler und Richter bedroht. Wir müssen die Institutionen unserer freiheitlichdemokratischen Grundordnung verteidigen – auch in den sozialen Medien. Es ist jetzt wirklich Zeit, dass die Bundesregierung handelt und gemeinsam mit der Europäischen Union zu einer Durchsetzung geltenden Rechts auch auf der Plattform Telegram kommt. Telegram dient der Propaganda radikaler Gegner der Corona-maßnahmen. Wir müssen Telegram verpflichten, die Identität von Nutzern zu übermitteln, wenn diese Straftaten begehen oder dazu aufrufen.
Wie nahe sind sogenannte Querdenker dem Terrorismus gekommen?
Die Radikalisierung findet auf Grundlage von falschen Informationen statt, die immer weiter verstärkt werden. Deswegen muss der Rechtsstaat handeln, bevor es die ersten Toten gibt.