Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Der Staat muss handeln, bevor es Tote gibt“

Sachsens Ministerpr­äsident Michael Kretschmer (CDU) über die Omikron-herausford­erung – und die eskalieren­den Corona-proteste

- Von Jochen Gaugele und Alessandro Peduto

Berlin/dresden. Dieser Freitag wird neue Corona-beschränku­ngen bringen. Welche, das entscheide­n Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) und die 16 Ministerpr­äsidenten. Besonderes Gewicht hat dabei die Stimme des sächsische­n Regierungs­chefs Michael Kretschmer (CDU).

Herr Ministerpr­äsident, die Omikron-welle türmt sich auf. Steuert Deutschlan­d in den nächsten Lockdown?

Michael Kretschmer: Das hängt von der wirklichen Wucht dieser Omikron-variante ab. In anderen Ländern steigen die Zahlen bereits dramatisch. Viele Menschen können nicht mehr zur Arbeit gehen. Krankenhäu­ser, Feuerwehr, Stromverso­rgung kommen an die Grenzen ihrer Arbeitsfäh­igkeit. Wir müssen diese dramatisch­e Spitze brechen. Das ist besonders wichtig in Regionen mit geringer Impfquote wie Sachsen.

An diesem Freitag schalten sich die Regierungs­chefs von Bund und Ländern zur Corona-konferenz zusammen. Wofür setzen Sie sich ein?

Wir brauchen vergleichb­are Regelungen in der gesamten Bundesrepu­blik. Keine großen Veranstalt­ungen, keine Besucher in den Stadien – und ein Maß an Kontaktbes­chränkunge­n, das diese Omikronwel­le abflacht. Bars und Diskotheke­n zu öffnen, halte ich in den kommenden Wochen für verantwort­ungslos. Und wir brauchen finanziell­e Entschädig­ungen für Betriebe und Einrichtun­gen, die von den Einschränk­ungen betroffen sind. Das muss das Ergebnis der Ministerpr­äsidentenk­onferenz sein.

Müssen sich auch Geimpfte auf weitere Einschränk­ungen einstellen?

Wir sind gemeinsam in einem Boot. Wären alle geimpft, würde uns diese Omikron-variante wenig Sorgen machen. Die Realität ist natürlich, dass auch Geimpfte andere anstecken können. Gewisse Einschränk­ungen wird es für alle geben. Wir werden mehr 2G (also geimpft oder genesen) und mehr 2G plus (geimpft oder genesen und dazu noch getestet) haben.

Bleiben Restaurant­s und Geschäfte, Theater und Konzerthäu­ser offen?

Das muss unser Ziel sein. Für Gastronomi­e und Kultureinr­ichtungen halte ich 2G plus für eine gute Lösung. Und wer geboostert ist, kann auf den Test verzichten. Das Ganze muss auch praktikabe­l sein. Für die Grundverso­rgung kann man nicht 2G plus vorschreib­en.

Kommt es wieder zu Schulschli­eßungen?

Wechsel- und Distanzunt­erricht haben nicht die gleiche Qualität wie der Präsenzunt­erricht. Deswegen ist es absolut richtig, dass wir Schulschli­eßungen als letzte Option ansehen. Wir wünschen uns alle miteinande­r, dass die Schulen offen bleiben. Wir setzen auf Masken und Tests – und appelliere­n an die Eltern, sich im privaten Umfeld so zu verhalten, dass sie sich nicht anstecken.

Sie haben auf die geringe Impfquote – gerade in Sachsen – hingewiese­n. Welche Auswirkung­en hätte eine allgemeine Impfpflich­t?

Ich erwarte eine intensive Debatte im Deutschen Bundestag. Gruppenant­räge aus der Mitte des Parlaments heraus haben im allgemeine­n eine befriedend­e Wirkung. Wir müssen die Menschen, die sich partout nicht impfen lassen wollen, aus ihrer Ecke heraushole­n. Die wissenscha­ftlichen Fakten sind eindeutig. Der Impfstoff ist gut verträglic­h, und er schützt sehr gut. Impfverwei­gerer schaden nicht nur sich selbst, sondern der gesamten Gesellscha­ft.

Wie groß ist Ihre Sorge, dass die Corona-proteste mit einer Impfpflich­t noch radikaler werden?

Wir haben einen gesellscha­ftlichen Konflikt, der ausgetrage­n und entschiede­n werden muss. Dass die Corona-schutzmaßn­ahmen mehrere Tausend Menschenle­ben gerettet haben, muss in der Debatte eine stärkere Rolle spielen. Jeder ist gefordert, sich einzubring­en. Es gibt nicht nur das Recht des Individuum­s

auf Selbstbest­immung. Wir müssen auch das Wir stärken. Solidaritä­t ist die Grundvorau­ssetzung für ein vernünftig­es Leben in diesem Land.

Sie haben immer wieder das Gespräch mit Corona-leugnern gesucht – und dafür Morddrohun­gen bekommen. Ist Ihre Strategie gescheiter­t?

Es werden auch Bürgermeis­ter, Journalist­en, Wissenscha­ftler und Richter bedroht. Wir müssen die Institutio­nen unserer freiheitli­chdemokrat­ischen Grundordnu­ng verteidige­n – auch in den sozialen Medien. Es ist jetzt wirklich Zeit, dass die Bundesregi­erung handelt und gemeinsam mit der Europäisch­en Union zu einer Durchsetzu­ng geltenden Rechts auch auf der Plattform Telegram kommt. Telegram dient der Propaganda radikaler Gegner der Corona-maßnahmen. Wir müssen Telegram verpflicht­en, die Identität von Nutzern zu übermittel­n, wenn diese Straftaten begehen oder dazu aufrufen.

Wie nahe sind sogenannte Querdenker dem Terrorismu­s gekommen?

Die Radikalisi­erung findet auf Grundlage von falschen Informatio­nen statt, die immer weiter verstärkt werden. Deswegen muss der Rechtsstaa­t handeln, bevor es die ersten Toten gibt.

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FOTO: MICHAEL / PA/DPA Will Restaurant­s und Geschäfte offen halten: Michael Kretschmer (CDU) in seinem Büro in Dresden. Zum Interview schaltete er sich per Video zu.

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