Vom Covid-musterland zum Krisenfall
Israel galt lange als Vorreiter in der Pandemiebekämpfung. Nun ist die Lage außer Kontrolle
Jerusalem. „Irgendwie ist das alles wie in der ersten Welle“, sagt Shoshana. „Wenn wir Freunde treffen, dann nur im Freien, und wenn wir Freunde mit Kindern treffen, überlegen wir es uns gründlich.“Die 60jährige Unternehmerin aus der Küstenstadt Netanya ist zwar schon vierfach geimpft. Angesichts der immer noch horrenden Infektionszahlen ist sie trotzdem „sehr, sehr vorsichtig“.
Die Sieben-tage-inzidenz liegt bei mehr als 3000. Das ist zwar bereits ein leichter Rückgang. Aber in den Krankenhäusern herrscht Alarmstufe Rot. Es gibt so viele schwere Covid-19-fälle wie nie zuvor. Behandelt werden sie in ausgedünnten Stationen, weil immer noch eine vierstellige Zahl an Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegepersonal durch Quarantäne ausfällt.
Nun geht zwar auch in den Spitälern die Zahl der Covid-19-patienten zurück. Von einer Beruhigung kann aber keine Rede sein. Vergangene Woche meldeten die Krankenhäuser einen absoluten Rekord an schweren Covid-19-erkrankungen. Nicht einmal in der heftigen dritten Welle, als viele Israelis noch ungeimpft waren, gab es so viele schwere
Verläufe.
Wie konnte es so weit kommen? Israel galt lange Zeit als Vorreiter in der Epidemiebekämpfung, es hat früher als alle anderen mit der Impfung begonnen. Trotzdem ist die Lage außer Kontrolle. Oder vielleicht auch deswegen?
Die Impfung wirkt, da sind sich alle Epidemiologen in Israel einig. Sie verliert aber angesichts der Omikron-variante sehr rasch ihren Schutzeffekt. Die meisten dreifach geimpften Israelis haben ihren Booster schon vor mehr als fünf Monaten erhalten. Damals half der Stich, um Israel rasch aus der Deltawelle zu hieven. Die Omikron-welle schlug dafür umso härter zu.
Rund 56 Prozent der Israelis sind mindestens dreifach geimpft. Unter den Erwachsenen sind es in allen Altersgruppen über 70 Prozent. Die Impfgegner-bewegung ist hier deutlich leiser als in Deutschland. Israelische Mütter bekommen aber mehr Kinder als deutsche, es gibt also schon allein wegen der Altersstruktur der israelischen Gesellschaft einen höheren Anteil an Ungeimpften als in der Bundesrepublik.
Dass Israel von der Omikron-welle so heftig erfasst wurde, hat aber auch mit einem Phänomen zu tun, das Hagai Levine „Epidemie-ermüdung“
nennt. Levine ist Professor für Epidemiologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er beschreibt ein Phänomen, das man Tag für Tag auf Israels Straßen beobachten kann.
So hängt zwar am Eingang zu jedem Laden ein Schild „Kein Eintritt ohne Maske“und offiziell werden Händler, die gegen das Maskengebot verstoßen, streng bestraft. Im Geschäft sieht man dann aber die Verkäufer und Verkäuferinnen häufig ohne Maske stehen, Kunden tun es ihnen gleich. Und die, die im Zug oder Bus zur Arbeit pendeln, müssen jeden Tag fürchten, dass der Arbeitsweg zum Superspreader-ereignis wird, weil es keine Personenbeschränkungen mehr gibt.
Kurs der Regierung:
Alles, nur nicht zusperren
Müde sind viele auch, was das Impfen betrifft, und zwar nicht erst seit Omikron. Auffällig ist das vor allem in ärmeren Gebieten. Die Regierung habe es versäumt, die sozial benachteiligten Schichten anzusprechen, sagt Nadav Davidovitsch, Professor für Öffentliche Gesundheit an der Ben-gurion-universität.
Das Ergebnis: In ärmeren Ballungszentren wie der flughafennahen Stadt Lod sind zwar 65 Prozent der Einwohner mindestens einmal geimpft, auf den Booster-stich hatten aber 61 Prozent schon keine Lust mehr.
Gesundheitsminister Nitzan Horowitz machte jetzt seinem Ärger über die Ungeimpften Luft. Jene Patienten, die heute die Krankenhäuser an den Rand des Kollaps bringen, hätten sich zum überwiegenden Teil mit eigener Kraft in diese schwierige Situation manövriert.
Allerdings tut die Regierung auch wenig, um die Ungeimpften zu schützen. Sie fährt einen entschlossenen „Alles, nur nicht zusperren“-kurs. Die 3G-regeln (geimpft, genesen oder getestet) wurden weitgehend gekippt, selbst Massenversammlungen dürfen ganz ohne Nachweise stattfinden, solange dort nicht gegessen wird.
Schülerinnen und Schüler, deren Sitznachbarn positiv getestet wurden, müssen weder in Quarantäne bleiben noch einen Test machen: Die Regeln sehen nur vor, dass Schüler jeden Sonntag und Mittwoch in der Schule einen negativen Antigentest vorweisen. Aber nur 30 Prozent tun das auch.
Die Lehrergewerkschaft wirft der Regierung vor, die Pädagogen der Durchseuchung auszuliefern. Fast wäre es zum Streik der Pädagogen gekommen – wenn nicht ein Gericht entschieden hätte, dass die Streikankündigung wegen formeller Gründe unwirksam war.
Die Regierung nimmt den Zorn der Lehrer in Kauf. Oberstes Ziel ist es, die Wirtschaft am Laufen zu halten – nicht zuletzt, um sich teure Ausgleichszahlungen zu ersparen. Jene Israelis, die wie Shoshana Angst vor einer Ansteckung haben, müssen dann eben verzichten: auf Kino, auf Theater, auf Umarmungen. Leicht falle ihr das nicht, sagt sie. „Aber hoffentlich ist das in zwei, drei Wochen wirklich vorbei.“