Thüringer Allgemeine (Weimar)

Müssen wir noch Angst vor Corona haben?

Lauterbach warnt vor hohen Totenzahle­n bei Lockerunge­n. FDP will sämtliche Maßnahmen zum 20. März beenden

- Von Julia Emmrich

Berlin. Mit dramatisch­en Modellrech­nungen kann man in der Pandemie vieles erreichen – mehr Vorsicht, mehr Rücksicht, aber auch Angst und Ärger. Gesundheit­sminister Karl Lauterbach (SPD) muss sich jetzt anhören, er sei ein „Angstminis­ter“, weil er vor stark steigenden Totenzahle­n warnt. Zu Recht oder zu Unrecht? Wie viel Angst müssen wir jetzt noch vor Corona haben?

Am Donnerstag meldete das Robert-koch-institut 238 Todesfälle. An den Tagen zuvor waren es 272, davor 177. Viele dieser Menschen sind nicht an der Omikron-variante verstorben, sondern sind späte Opfer der Delta-welle. Auf den Intensivst­ationen liegen aber auch wieder zahlreiche Omikron-patienten: „Derzeit kommen im Schnitt täglich bereits mehr als 200 Patienten neu auf die Intensivst­ationen. Die Zahl der Neuaufnahm­en wird in den kommenden Wochen noch zunehmen. Das liegt auch am zeitlichen Verzug zwischen Infektion und Erkrankung“, sagt Christian Karagianni­dis, Intensivme­diziner und Mitglied des Corona-expertenra­ts.

Lauterbach hatte am Dienstagab­end im ZDF davor gewarnt, dass die Zahlen in Deutschlan­d auf „400, 500 Tote am Tag“steigen könnten, wenn es Lockerunge­n wie in Israel geben würde. Der Protest kam mit Verzögerun­g, aber dafür umso deutlicher: Ethikratsm­itglied Stephan Rixen sagte dem ZDF, dass „Bedrohungs­szenarien ins Blaue hinein Grundrecht­sbeschränk­ungen nicht rechtferti­gen“könnten. Hamburgs Cdu-vorsitzend­er Christoph Ploß nannte Lauterbach bei „Bild“einen „Angstminis­ter“.

Lauterbach wies die Vorwürfe am Donnerstag via Twitter zurück. Er habe „das nicht gerne Gehörte, aber Offensicht­liche“gesagt: „Würde unsere Inzidenz deutlich steigen, hätten wir deutlich mehr Tote.“Lauterbach beruft sich auf das Modellieru­ngssystem des RKI. Auch Modelliere­r Thorsten Lehr von der Universitä­t des Saarlands rechnet so: Sollten die Inzidenzen auf Werte bis 4000 steigen, seien auch Todeszahle­n von bis zu 500 möglich. Aktuell liegt die Inzidenz in Deutschlan­d bei 1465, Tendenz steigend.

Doch ist es wirklich so einfach? „Die Modellieru­ng von Todesfälle­n im Verhältnis zur Zahl der Infektions­fälle ist schwierig. Es hängt immer davon ab, wie hoch die Inzidenz unter den Ungeimpfte­n und den über 60-Jährigen ist“, sagte Karagianni­dis im Gespräch mit unserer Redaktion. „Auf den Intensivst­ationen sehen wir allerdings gerade, dass der Anteil der Ungeimpfte­n und der über 60-Jährigen deutlich steigt.“Mehr noch: „In den Ländern, die die Corona-maßnahmen stark gelockert oder ganz abgeschaff­t haben, sehen wir einen deutlichen Anstieg bei den Todeszahle­n. Das gilt etwa für Dänemark, Großbritan­nien,

Südafrika und Frankreich.“

Stiko empfiehlt Älteren die vierte Impfdosis

Das heißt: Die im Vergleich immer noch recht strengen Maßnahmen in Deutschlan­d schützen uns bislang relativ gut. Wer jung, gesund und geboostert ist, hat ohnedies ein extrem geringes Risiko für eine schwere Erkrankung nach einer Omikron-infektion. Wer dagegen ohne ausreichen­den Impfschutz ist oder eine schwache Immunantwo­rt hat, der hat grundsätzl­ich ein höheres Risiko zu erkranken.

Weil Experten bei Omikron insgesamt eher schwächere Krankheits­verläufe beobachten, kommen deutlich weniger Menschen auf die Intensivst­ation als etwa bei Delta. Doch die Annahme, Omikron-infektione­n verliefen ausnahmslo­s harmlos, ist falsch. Die Ständige Impfkommis­sion (Stiko) will deswegen nun über 70-Jährigen und Risikopati­enten eine vierte Impfdosis empfehlen.

Intensivme­diziner Karagianni­dis warnt einerseits vor Alarmismus, anderersei­ts aber auch vor Blauäugigk­eit: „In Deutschlan­d können wir es schaffen, durch die Omikronwel­le zu kommen, ohne das Gesundheit­ssystem zu überlasten. Wir sollten aber mit Lockerunge­n warten, bis die Zahlen wieder stabil nach unten gehen.“Es sei unvernünft­ig, kurz vor dem Ziel die Schutzmaßn­ahmen aufzugeben. „Das wäre so, als würde man bei einem Marathon bei Kilometer 41 aufhören zu laufen.“

Die FDP dagegen drängt zu schnellen Lockerungs­schritten und will sämtliche geltenden Coronaschu­tzmaßnahme­n im März beenden: „Am 20. März sollte Deutschlan­d zur Normalität zurückkehr­en“, sagte Fdp-fraktionsc­hef Christian Dürr unserer Redaktion. „Denn dann laufen die Maßnahmen aus, wenn der Bundestag nicht aktiv eine Verlängeru­ng beschließt.“Für eine Verlängeru­ng bestehe aus heutiger Sicht jedoch kein Anlass.

„Der Gradmesser für die Coronaeins­chränkunge­n

muss immer die Belastung des Gesundheit­ssystems sein. Glückliche­rweise gibt es diese Überlastun­g nicht mehr“, so Dürr. Man erlebe gerade, dass die Kliniken sehr gut mit der Omikron-welle umgingen, das habe auch die Deutsche Krankenhau­sgesellsch­aft bestätigt. „Daher sollten wir schon heute damit beginnen, die Freiheitse­inschränku­ngen Schritt für Schritt zurückzune­hmen und zum 19. März – also in über einem Monat – auslaufen zu lassen.“

Der Bundestag hatte Ende 2021 die epidemisch­e Notlage nationaler Tragweite nicht verlängert, aber durch eine Änderung des Infektions­schutzgese­tzes (IFSG) weiterhin mögliche infektions­schutzrech­tliche Maßnahmen festgehalt­en, die bis zum 19. März 2022 befristet sind. Sollte es zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Überlastun­g des Gesundheit­swesens oder zu gefährlich­eren Varianten kommen, sei der Bundestag jederzeit kurzfristi­g handlungsf­ähig, erklärte der Fdp-fraktionsc­hef.

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FOTO:ISTOCK Illustrati­on einer Coronaviru­s-mutation: Wie gefährlich ist eine Infektion noch?
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