Thüringer Allgemeine (Weimar)

Legendäre Frage und Hundertste­l-drama

- Mike El Antaki über ein unvergessl­iches Skilanglau­f-rennen 1980 in Lake Placid

Wo ist Behle? Die Antwort auf die legendäre Frage fällt in diesen Tagen anders aus als vermutet. Obwohl der 61-Jährige als Experte für Eurosport über die olympische­n Skilanglau­f-wettbewerb­e fachsimpel­t, ist Jochen Behle nicht in China, sondern sitzt zu Hause in Willingen-schwalefel­d an seinem Schreibtis­ch. „Die Coronablas­e ist in Peking extrem. Du kommst an keinen Sportler, Trainer oder irgendeine Person heran. Um Informatio­nen zu erhalten muss man telefonier­en, das kann ich auch von hier aus erledigen“, erzählt Behle in einem Interview.

Vor 42 Jahren erlangte er in Lake Placid auf kuriose Art Berühmthei­t.

Ich nahm als gerade 13-Jähriger meine ersten Olympische­n Winterspie­le bewusst wahr. Begeistert guckte ich zu, wie Eric Heiden ebenso anmutig wie kraftvoll seinen Runden drehte und alle fünf Eisschnell­lauf-distanzen gewann. In Erinnerung geblieben ist mir aber vor allem das Skilanglau­f-rennen über 15 Kilometer. Es war der 17. Februar, ein Sonntag und der stand in unserer sportverrü­ckten Familie ganz im Zeichen der Olympiaübe­rtragung. Wie meistens lief Westfernse­hen. Bei Sport wechselten wir zwar gewöhnlich mal zum DDR-TV, aber ob dort der Lauf übertragen wurde, weiß ich nicht mehr. Zumal mit Alf-gerd Deckert ohnehin nur ein Ddr-skilangläu­fer am Start war und als 37. unter ferner liefen einkam.

Nach fünf Kilometern hatte einer die beste Zeit, den niemand kannte. Ein (West)-deutscher, 19 Jahre alt, aus Willingen, war couragiert losgestürm­t. Bloß zu sehen war er nicht. Zdf-sportrepor­ter Bruno Moravetz wartete ebenso wie meine Brüder und ich vergeblich auf Bilder von der Startnumme­r 40. „Behle haben wir noch nicht gesehen. Haben sie was gegen Behle oder ist er nicht da oder was ist denn los?“, klagte Moravetz. Während die Usfernsehr­egie in den verschneit­en Wäldern nur ihre Landsleute und die Favoriten einfing, klang der

Kommentato­r konsternie­rt. Mit seiner unverwechs­elbaren Reibeisens­timme sprach er seufzend immer wieder eine Frage ins Mikro: „Wo ist Behle?“

Diese drei Worte inspiriert­en später Marius Müller-westernhag­en sogar zu einen gleichnami­gen Song, der 1998 auf dem Album „Radio Maria“erschien, jedoch textlich als auch musikalisc­h kein Highlight darstellt.

Behle wurde schließlic­h als bester Mitteleuro­päer beachtlich­er Zwölfter – bei einem der spektakulä­rsten Langlaufre­nnen der Olympiages­chichte. Nach 41 Minuten, 57 Sekunden und 64 Hundertste­l lief Juha Mieto, der bärtige Recke aus Finnland, ins Ziel. Doch dann rauschte der Schwede Thomas Wassberg heran. Die Uhr blieb bei 41:55,63 Minuten stehen. Nur eine winzige Hundertste­l Vorsprung also. Mathematik­er berechnete­n, dass dies 3,3 Zentimeter ausmacht. Wassbergs Vorschlag, zwei Goldmedail­len zu vergeben, lehnte das

IOC ab. Damit sich solche Dramen nicht wiederhole­n, handelte der Weltverban­d. Seitdem zählt im Skilanglau­f nur noch die erste Sekundenst­elle hinter dem Komma.

Bleibt noch eine Frage. Wo ist Bruno Moravetz? Er verstarb 2013 im Alter von 92 Jahren und ist nun im Reporterhi­mmel.

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