„Rocketman“
Eiskunstlauf Us-amerikaner Nathan Chen schraubt sich zu Elton Johns Klängen zu Gold
Peking. Um seinen großen Traum zu realisieren und Olympiasieger zu werden, musste Nathan Chen einen inneren Konflikt bewältigen. Er wollte die Winterspiele von 2018 vergessen, musste sich aber trotzdem noch einmal daran erinnern.
Als gerade mal 18-Jähriger patzte der Wunderknabe des Eiskunstlaufs in Pyeongchang im Kurzprogramm. Vom 17. Platz kämpfte er sich aber noch auf Rang fünf vor. Vier Jahre später in Peking dachte er nun an dieses von ihm als „Niedergang“bezeichnete Erlebnis, als er zur Kür seines Lebens ansetzte. Es war mucksmäuschenstill, als der Us-amerikaner über das Eis schwebte – und so ekstatisch, wie ein halbvolle Arena nur sein kann, als der Sprungakrobat jeden seiner fünf Vierfachsprünge, den Flip, den Toeloop, den Salchow, den Lutz und eine abschließende Kombination
landete. „Es war immer ein Traum von mir Olympiasieger zu werden“, sagte Chen nach seiner Gold-kür, „aber es war auch ein ziemlich beängstigender Berg.“
Chen hat seinen Sport auf eine andere Ebene gehoben. Niemand fliegt spektakulärer, niemand riskiert mehr, wenn er wie selbstverständlich viermal um die eigene Körperachse dreht und sicher landet. In Peking schraubte er sich zu Elton Johns Lied „Rocketman“in die Höhe, leistete sich nur einen Wackler, der ihn nach seinem Weltrekord im Kurzprogramm aber nicht mehr gefährdete. Gold mit 332,60 Punkten vor den Japanern Yuma Kagiyama (310,05) und Shoma Uno (293). „Alles ist noch wie ein Wirbelwind“, sagte Chen später, „das bedeutet die Welt für mich.“
Gold ist genau das, was in der Eiskunstlaufnation USA bereits 2018 von dem 1,66 Meter großen Ästheten aus Salt Lake City ersehnt wurde. Er war da bereits der aufkommende Star, sein Gesicht war auf Cornflakes-verpackungen gedruckt und hing als Riesenpost am New Yorker Times Square. Gewinnen oder verlieren hieß es in Korea. Schon Platz zwei wäre als Niederlage wahrgenommen worden.
Vom emotionalen Abgrund 2018 auf den olympischen Thron
Die Enttäuschung bei der Olympiapremiere über eine verpasste Medaille zog den introvertierten Jungstar an den emotionalen Abgrund. Zum Glück ist inzwischen die Erkenntnis gekommen: „Irgendwann zwischen der Kür vor vier Jahren und dem Kurzprogramm jetzt konnte ich meine Perspektive wechseln und erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben.“
Dabei geht es vor allem um seine Identität. Chen ist das jüngste von fünf Kindern, deren Eltern Ende der Achtziger Jahre aus China in die
USA einwanderten. Mit drei Jahren stand er erstmals auf Schlittschuhen. Um diesen teuren Sport auszuüben, setzte sich seine Mutter schon mal zwölf Stunden mit dem Jungen ins Auto, um zum nächsten Wettkampf zu fahren. Darin wurde dann auch genächtigt, um neben Flugnoch Hotelkosten zu sparen. Die Familie gab Nathan nie das Gefühl, dass er ihr etwas schulde für all die Entbehrungen. Und doch fühlte er sich so, als müsse er etwas zurückzahlen. Nach dem Olympia-reinfall 2018 führte seine Schwester Alice ein wegweisendes Gespräch mit Chen. Sie machte ihm klar, dass diese eine Niederlage ihn nicht als Person definieren würde: „Am nächsten Morgen ist er als völlig anderer Mensch aufgestanden.“
Die Arbeit mit Trainer Rafael Harutjunjan in Lakewood, Kalifornien, zahlte sich aus: Chen wurde seitdem dreimal Weltmeister. Chen hofft auch auf einen positiven Effekt
seiner Erfolge: „Es ist wichtig, dass die Leute Gesichter im Fernsehen sehen, von denen sie denken: Das könnten sie selbst sein. Wenn wir coole Dinge tun, kann auch Kindern besser vermittelt werden, dass es okay ist, so zu sein, wie sie sind.“
Mit seinen geschmeidigen Bewegungen auf dem Pekinger Eis stieg der Student der Yale-universität nun zum Nationalheiligen in den USA und zur unumstrittenen Nummer eins in seiner Sportart auf. Daran konnte auch Doppel-olympiasieger Yuzuru Hanyu nichts ändern. Der Japaner wurde nach verpatztem Kurzprogramm zwar noch Vierter, stürzte jedoch beim Versuch, als Erster einen vierfachen Axel im Wettkampf zu stehen.
Nathan Chen sagte einmal, sein ultimatives Ziel sei es, nach der Karriere sagen zu können: Hey, weißt du, du warst großartig. Auf die Frage, wie er sich nun fühle, antwortete er am Donnerstag nur: „Erlöst.“