Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Rocketman“

Eiskunstla­uf Us-amerikaner Nathan Chen schraubt sich zu Elton Johns Klängen zu Gold

- Von Andreas Berten

Peking. Um seinen großen Traum zu realisiere­n und Olympiasie­ger zu werden, musste Nathan Chen einen inneren Konflikt bewältigen. Er wollte die Winterspie­le von 2018 vergessen, musste sich aber trotzdem noch einmal daran erinnern.

Als gerade mal 18-Jähriger patzte der Wunderknab­e des Eiskunstla­ufs in Pyeongchan­g im Kurzprogra­mm. Vom 17. Platz kämpfte er sich aber noch auf Rang fünf vor. Vier Jahre später in Peking dachte er nun an dieses von ihm als „Niedergang“bezeichnet­e Erlebnis, als er zur Kür seines Lebens ansetzte. Es war mucksmäusc­henstill, als der Us-amerikaner über das Eis schwebte – und so ekstatisch, wie ein halbvolle Arena nur sein kann, als der Sprungakro­bat jeden seiner fünf Vierfachsp­rünge, den Flip, den Toeloop, den Salchow, den Lutz und eine abschließe­nde Kombinatio­n

landete. „Es war immer ein Traum von mir Olympiasie­ger zu werden“, sagte Chen nach seiner Gold-kür, „aber es war auch ein ziemlich beängstige­nder Berg.“

Chen hat seinen Sport auf eine andere Ebene gehoben. Niemand fliegt spektakulä­rer, niemand riskiert mehr, wenn er wie selbstvers­tändlich viermal um die eigene Körperachs­e dreht und sicher landet. In Peking schraubte er sich zu Elton Johns Lied „Rocketman“in die Höhe, leistete sich nur einen Wackler, der ihn nach seinem Weltrekord im Kurzprogra­mm aber nicht mehr gefährdete. Gold mit 332,60 Punkten vor den Japanern Yuma Kagiyama (310,05) und Shoma Uno (293). „Alles ist noch wie ein Wirbelwind“, sagte Chen später, „das bedeutet die Welt für mich.“

Gold ist genau das, was in der Eiskunstla­ufnation USA bereits 2018 von dem 1,66 Meter großen Ästheten aus Salt Lake City ersehnt wurde. Er war da bereits der aufkommend­e Star, sein Gesicht war auf Cornflakes-verpackung­en gedruckt und hing als Riesenpost am New Yorker Times Square. Gewinnen oder verlieren hieß es in Korea. Schon Platz zwei wäre als Niederlage wahrgenomm­en worden.

Vom emotionale­n Abgrund 2018 auf den olympische­n Thron

Die Enttäuschu­ng bei der Olympiapre­miere über eine verpasste Medaille zog den introverti­erten Jungstar an den emotionale­n Abgrund. Zum Glück ist inzwischen die Erkenntnis gekommen: „Irgendwann zwischen der Kür vor vier Jahren und dem Kurzprogra­mm jetzt konnte ich meine Perspektiv­e wechseln und erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben.“

Dabei geht es vor allem um seine Identität. Chen ist das jüngste von fünf Kindern, deren Eltern Ende der Achtziger Jahre aus China in die

USA einwandert­en. Mit drei Jahren stand er erstmals auf Schlittsch­uhen. Um diesen teuren Sport auszuüben, setzte sich seine Mutter schon mal zwölf Stunden mit dem Jungen ins Auto, um zum nächsten Wettkampf zu fahren. Darin wurde dann auch genächtigt, um neben Flugnoch Hotelkoste­n zu sparen. Die Familie gab Nathan nie das Gefühl, dass er ihr etwas schulde für all die Entbehrung­en. Und doch fühlte er sich so, als müsse er etwas zurückzahl­en. Nach dem Olympia-reinfall 2018 führte seine Schwester Alice ein wegweisend­es Gespräch mit Chen. Sie machte ihm klar, dass diese eine Niederlage ihn nicht als Person definieren würde: „Am nächsten Morgen ist er als völlig anderer Mensch aufgestand­en.“

Die Arbeit mit Trainer Rafael Harutjunja­n in Lakewood, Kalifornie­n, zahlte sich aus: Chen wurde seitdem dreimal Weltmeiste­r. Chen hofft auch auf einen positiven Effekt

seiner Erfolge: „Es ist wichtig, dass die Leute Gesichter im Fernsehen sehen, von denen sie denken: Das könnten sie selbst sein. Wenn wir coole Dinge tun, kann auch Kindern besser vermittelt werden, dass es okay ist, so zu sein, wie sie sind.“

Mit seinen geschmeidi­gen Bewegungen auf dem Pekinger Eis stieg der Student der Yale-universitä­t nun zum Nationalhe­iligen in den USA und zur unumstritt­enen Nummer eins in seiner Sportart auf. Daran konnte auch Doppel-olympiasie­ger Yuzuru Hanyu nichts ändern. Der Japaner wurde nach verpatztem Kurzprogra­mm zwar noch Vierter, stürzte jedoch beim Versuch, als Erster einen vierfachen Axel im Wettkampf zu stehen.

Nathan Chen sagte einmal, sein ultimative­s Ziel sei es, nach der Karriere sagen zu können: Hey, weißt du, du warst großartig. Auf die Frage, wie er sich nun fühle, antwortete er am Donnerstag nur: „Erlöst.“

 ?? FOTO: ANTONIN THUILLIER / AFP ?? Der Us-amerikaner Nathan Chen hat sich mit einer glänzenden Kür zum Olympiasie­ger gekrönt.
FOTO: ANTONIN THUILLIER / AFP Der Us-amerikaner Nathan Chen hat sich mit einer glänzenden Kür zum Olympiasie­ger gekrönt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany