Thüringer Allgemeine (Weimar)

Verursacht Corona bei Kindern Diabetes?

Nach jeder Pandemiewe­lle erkranken deutlich mehr Jungen und Mädchen an der Typ-1-form. Forscher rätseln

- Von Susanne Rochholz

Berlin. Kinder und Jugendlich­e haben in der Corona-pandemie von allen Bevölkerun­gsgruppen die größten Opfer gebracht – diese Feststellu­ng gilt mittlerwei­le als Binse. Doch sie bekommt durch eine aktuelle Studie neue Nahrung: Denn den Pandemiewe­llen folgte mit jeweils ziemlich genau einem Vierteljah­r Abstand eine andere Krankheits­welle: Deutlich mehr Jungen und Mädchen, als eigentlich zu erwarten war, erkrankten rund drei Monate nach den jeweils höchsten Covid-19-fallzahlen an Diabetes Typ 1.

Diesen alarmieren­den Befund hat ein Team um den Kinderdiab­etologen Clemens Kamrath von der Justus-liebig-universitä­t (JLU) Gießen festgestel­lt. Eine zweite Erkenntnis lautet, dass umso häufiger Typ-1-diabetes diagnostiz­iert wurde, je jünger die Mädchen und Jungen waren.

„Wir glauben, dass es nicht direkt der Erreger ist, der den Diabetes auslöst.“Clemens Kamrath, Kinderdiab­etologe Justus-liebig-universitä­t Gießen

Typ-1-diabetes heißt auch juveniler (jugendlich­er) Diabetes, denn er tritt vor allem bei Minderjähr­igen auf. Er ist die häufigste Stoffwechs­elerkranku­ng im Kindes- und Jugendalte­r. Es handelt sich um eine sogenannte Autoimmune­rkrankung, das heißt: Das Immunsyste­m des Menschen richtet sich gegen Teile des Körpers selbst.

Beim Typ-1-diabetes zerstören körpereige­ne Abwehrzell­en Insulin produziere­nde Zellen in der Bauchspeic­heldrüse. Somit kann der Körper überhaupt kein Insulin mehr herstellen, das er aber für die Verwertung von Zucker und anderen Kohlenhydr­aten benötigt. Typ-1diabetes ist nicht heilbar, die Erkrankten müssen ihr ganzes Leben lang Insulin von außen zuführen.

Schon länger vermuten Wissenscha­ftler, dass Typ-1-diabetes häufiger nach Infektione­n auftritt. Zusätzlich zur genetische­n Anlage wirkt die ansteckend­e Krankheit mutmaßlich als Auslöser.

Während die Gießener Forschende­n sich nur den Typ-1-diabetes bei Kindern und Jugendlich­en anschauten, sieht das bei einer zweiten aktuellen Studie zu einem möglichen Zusammenha­ng zwischen Covid-19 und Diabetes bei Minderjähr­igen anders aus: Sie stammt von der Us-gesundheit­sbehörde CDC (Centers for Disease Control and Prevention), unterschei­det aber nicht zwischen Diabetes Typ 1 und 2, dem sogenannte­n Altersdiab­etes.

Allen Diabetes-erkrankung­en gemeinsam ist ein ständig zu hoher Zuckerspie­gel im Blut, weswegen die Krankheit im Deutschen auch Zuckerkran­kheit genannt wird. Typ 2 ist wesentlich häufiger als Typ 1.

Einer der Hauptunter­schiede zwischen den beiden Formen ist, dass Typ-2-diabetes durch eine ungesunde Lebensweis­e – starkes Übergewich­t und Bewegungsm­angel – entsteht und durch eine Änderung des Ernährungs­stils sowie anderer alltäglich­er Gewohnheit­en beeinfluss­t werden kann. Weil heutzutage schon viele Kinder und Jugendlich­e zu wenig Sport treiben und fettleibig sind, gibt es insbesonde­re in den USA zunehmend mehr Fälle von „Altersdiab­etes“auch bei Minderjähr­igen.

Die fehlende Differenzi­erung zwischen Typ-1- und Typ-2-diabetes in der Us-studie ist einer der Hauptkriti­kpunkte an der Cdc-untersuchu­ng, fehlende Repräsenta­tivität ein zweiter. Außerdem legte die Studie aus den Vereinigte­n Staaten ihr Hauptaugen­merk auf einen anderen Zusammenha­ng, als die Gießener Untersuchu­ng es tat: Die Usforschen­den versuchten, einen Zusammenha­ng zu finden zwischen einer Sars-cov-2-infektion und einem darauf folgenden Diabetesau­sbruch bei Jungen und Mädchen.

Das Gießener Team wies zwar einen Zusammenha­ng mit den Pandemiewe­llen nach. Studienlei­ter Kamrath ist sich aber ziemlich sicher, dass die in seine Studie einbezogen­en Kinder und Jugendlich­en eher nicht mit dem damals neuartigen Coronaviru­s infiziert waren. Genau feststelle­n lässt sich nicht mehr, ob die neu an Diabetes Typ 1 erkrankten Kinder zuvor Covid-19 durchgemac­ht haben, weil aus den ersten Monaten der Pandemie systematis­che Untersuchu­ngen dazu fehlen. Darauf weist Reinhard W. Holl von der Universitä­t Ulm hin, der ein Register über Diabetes-erkrankung­en führt und dem Gießener Team für die Studie zuarbeitet­e.

Studienlei­ter Kamrath erläutert: „Irgendwie ist es schon die Pandemie, aber die Pandemie hat viele Facetten.“Er vermutet einen Zusammenha­ng mit den Maßnahmen zur Eindämmung der jeweiligen Pandemiewe­llen: In der ersten Welle seien Schulen und Kindergärt­en geschlosse­n worden, in der zweiten Welle aber nicht dauerhaft. Somit infizierte­n sich in der zweiten Pandemiewe­lle deutlich mehr Mädchen und Jungen mit Sars-cov-2. Die neu diagnostiz­ierten Diabetesfä­lle ein Vierteljah­r später waren aber nach beiden Pandemiewe­llen zahlenmäßi­g ungefähr gleich. „Wir glauben daher, dass es nicht direkt der Erreger ist, der den Diabetes auslöst“, sagt Kamrath.

Stärkster Diabetes-anstieg bei Kindern unter sechs Jahren

Ganz klar sei aber neben dem zeitlichen Zusammenha­ng ein Alterseinf­luss erkennbar. Bei Jungen und Mädchen unter sechs Jahren trat wesentlich häufiger ein Typ-1-diabetes neu auf als bei Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren, während sich die Zahl der Jugendlich­en ab zwölf Jahren mit einem neu diagnostiz­ierten Typ-1-diabetes nicht besonders stark von den Erfahrungs­werten abhob.

Kamrath geht von der sogenannte­n Hygienethe­se aus: Kinder hätten im Winter 2020/21 wegen der

Reduzierun­g von Sozialkont­akten kaum harmlose Infektione­n wie Erkältunge­n durchgemac­ht, sagt er.

Das Social Distancing könnte, so die Hypothese der Gießener Studie, bei den betroffene­n Kindern eine Autoimmunr­eaktion ausgelöst und zu der auffällige­n Häufung von Typ1-diabetes-fällen geführt haben. „Infektione­n können Typ-1-diabetes auslösen, aber zu wenig Infektione­n könnten auch einen Einfluss haben“, fasst der Wissenscha­ftler seine These zusammen.

Und je jünger die Kinder, desto weniger trainiert ist das Immunsyste­m – das würde erklären, warum Klein- und Kindergart­enkinder häufiger betroffen waren als ältere Jungen und Mädchen. Daneben könnte auch der psychische Stress durch die Maßnahmen zur Pandemieei­ndämmung eine Rolle spielen.

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FOTO: ISTOCK Kinder mit Diabetes Typ 1 müssen regelmäßig ihren Blutzucker­spiegel messen.

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