Güte erfahren
Es ist eine kleine Geschichte mit großer Wirkung, die Jesus da erzählt. Von einem Weinbergbesitzer, der Arbeiter für seinen Weinberg sucht. Früh am Morgen zieht er aus und stellt die ersten Arbeiter ein. Er vereinbart mit Ihnen einen Lohn, einen Silbergroschen will er ihnen geben.
Zur Mittagszeit schickt er noch mehr Arbeiter in seinen Weinberg. Er verspricht ihnen zu geben, was recht ist. Kurz vor Feierabend stellt er noch einmal neu Arbeiter ein und schickt sie in seinen Weinberg.
Am Ende des Tages kommen die verschiedenen Arbeiter. Alle erhalten ihren Lohn. Den gleichen Lohn. Einen Silbergroschen für jede und jeden.
Da regt sich Widerstand unter den Arbeitern. Sollten die, die länger gearbeitet haben, nicht mehr bekommen? Es muss doch gerecht zugehen!
Und dann fällt der entscheidende Satz. Der Weinbergbesitzer fragt: „Schaust du darum so neidisch, weil ich gütig bin?“
In der Tat: Manchmal ist es nur schwer auszuhalten, wenn Gnade vor Recht ergeht. Recht zu haben – das tut gut! Ob im Straßenverkehr oder im Meinungsstreit: Hauptsache ich habe Recht!
Dabei sind wir alle darauf angewiesen, dass wir einander genug Platz zum Leben lassen. Dass uns Fehler verziehen werden.
Wer ohne Fehler ist, der werfe den ersten Stein. Wenn das gilt, dann sind wir alle darauf angewiesen, dass wir Güte erfahren. Vor Gott und vor meinen Mitmenschen. Dass wir einander Fehler verzeihen und Neuanfänge möglich machen. Ganz konkret und heute! Mit Güte auf andere blicken und darauf vertrauen, dass auch ich dieser Güte bedarf.
Ramón Seliger ist Pfarrer an der Weimarer Stadtkirche St. Peter und Paul (Herderkirche) und Pfarrer bei der Diakonie