Thüringer Allgemeine (Weimar)

Güte erfahren

- Rámon Seliger über das Verzeihen von Fehlern

Es ist eine kleine Geschichte mit großer Wirkung, die Jesus da erzählt. Von einem Weinbergbe­sitzer, der Arbeiter für seinen Weinberg sucht. Früh am Morgen zieht er aus und stellt die ersten Arbeiter ein. Er vereinbart mit Ihnen einen Lohn, einen Silbergros­chen will er ihnen geben.

Zur Mittagszei­t schickt er noch mehr Arbeiter in seinen Weinberg. Er verspricht ihnen zu geben, was recht ist. Kurz vor Feierabend stellt er noch einmal neu Arbeiter ein und schickt sie in seinen Weinberg.

Am Ende des Tages kommen die verschiede­nen Arbeiter. Alle erhalten ihren Lohn. Den gleichen Lohn. Einen Silbergros­chen für jede und jeden.

Da regt sich Widerstand unter den Arbeitern. Sollten die, die länger gearbeitet haben, nicht mehr bekommen? Es muss doch gerecht zugehen!

Und dann fällt der entscheide­nde Satz. Der Weinbergbe­sitzer fragt: „Schaust du darum so neidisch, weil ich gütig bin?“

In der Tat: Manchmal ist es nur schwer auszuhalte­n, wenn Gnade vor Recht ergeht. Recht zu haben – das tut gut! Ob im Straßenver­kehr oder im Meinungsst­reit: Hauptsache ich habe Recht!

Dabei sind wir alle darauf angewiesen, dass wir einander genug Platz zum Leben lassen. Dass uns Fehler verziehen werden.

Wer ohne Fehler ist, der werfe den ersten Stein. Wenn das gilt, dann sind wir alle darauf angewiesen, dass wir Güte erfahren. Vor Gott und vor meinen Mitmensche­n. Dass wir einander Fehler verzeihen und Neuanfänge möglich machen. Ganz konkret und heute! Mit Güte auf andere blicken und darauf vertrauen, dass auch ich dieser Güte bedarf.

Ramón Seliger ist Pfarrer an der Weimarer Stadtkirch­e St. Peter und Paul (Herderkirc­he) und Pfarrer bei der Diakonie

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