Der Flügelschlag des alten Adlers
Der Lysgard, der Lichthof von Lillehammer, macht an diesem 20. Februar 1994 seinem Namen alle Ehre. Die tief verschneite olympische Schanzenanlage glitzert in der sonntäglichen Mittagssonne in festlichem Weiß. 50.000 Menschen sind hinausgepilgert zur ersten Skisprungentscheidung der Spiele, dem Wettbewerb von der Großschanze. Eine mächtige, eine knisternde, eine würdige Kulisse.
Alles spricht vom Zweikampf zwischen Espen Bredesen, dem Doppel-weltmeister und Tourneesieger aus Norwegen und Jens Weißflog, dem wiederstarkten Deutschen aus Oberwiesenthal. Und das Publikum wird nicht enttäuscht. Auf dem Lysgardsbakken entwickelt sich in den folgenden zwei Stunden ein atemberaubendes Springen, das die Zuschauer zwischen Begeisterung und Fassungslosigkeit hin- und herreißt. Bredesen, der Risikobereite, hat nach dem ersten Durchgang mit dem Schanzenrekord von 135,5 Metern – der bis dahin größten Weite der olympischen Geschichte – die Führung übernommen. Weißflog, der exzellente, doch sensible Techniker, ist zuvor nur auf 129,5 Meter gesprungen. Damit liegt er zwar knapp vor dem Österreicher Andreas Goldberger, aber entmutigende 10,3 Punkte hinter Bredesen. Der Talkessel brodelt, und Weißflog
hebt ratlos die Schultern: „Es war keine Thermik am Hang.“
Zweiter Durchgang. Weißflog muss als Vorletzter vor Bredesen ran. Als er nach unten blickt, sieht er ein Meer rot-blauer Fahnen. Die Norweger feiern schon ihren Olympiasieger. Weißflog hebt ab, zieht hinab auf 133 Meter und reißt nach der Landung die Arme hoch. Er weiß noch nicht, ob es zum Sieg reicht, aber er ist sich treu geblieben. „Messt mich nicht nur am Glanz der Medaille“, hat er vor Olympia gesagt, „ich will vor allem meine Leistung bringen.“Die hat er gebracht – mit einem Sprung, den Bredesen nicht mehr kontern kann. Mit dem Wind verlässt ihn das Glück. Nur 122 Meter. Auch wenn ihm der norwegische Sprungrichter die Höchstnote 20 gibt – der Olympiasieger heißt Jens Weißflog. Reinhard Heß ist sichtlich aufgewühlt. „Das war der Kämpfer, der sich nie aufgibt“, sagt der Thüringer Trainer über seinen Meisterschüler.
Zehn Jahre nach seinem ersten olympischen Gold 1984 in Sarajevo hat sich Weißflog mit dem Flügelschlag des alten Adlers noch einmal in den Olymp erhoben. Er kniet im Schnee, schlägt die Hände vor das Gesicht und weiß nicht, was er sagen soll. „Ich bin wahnsinnig froh“, stammelt er in ein Mikrofon, ehe ihn seine Mannschaftskollegen auf ihre Schultern heben. Es ist der würdige Platz für einen, der es sich dank seines Könnens in zwei – politisch und sprungtechnisch – ganz verschiedenen Epochen durchzusetzen vermochte.
Blickt Weißflog heute zurück, weiß er diesen späten Erfolg besonders zu schätzen: „Mit 19 denkst du, das muss so sein. Mit 29, nach vielen Entbehrungen und der Umstellung auf den V-stil, sind die Emotionen viel größer.“Umso schöner, wenn die Erinnerung mit einem Ort wie Lillehammer verknüpft ist. Mit diesen märchenhaften Spielen an der Wiege des Wintersports. Ein olympischer Traum, der sich nie wieder erfüllen wird.