Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Nullerjahr­e“– eine ostdeutsch­e Jugend auf der falschen Seite

Wie Probleme die Nachwendeg­eneration geprägt haben, beschreibt der Rapper Hendrik Bolz. Sein Buch könnte nicht nur ihm helfen

- Von Christophe­r Hirsch

Stralsund/berlin. Der Begriff der blühenden Landschaft­en hat für viele Menschen im Osten einen faden Beigeschma­ck. Auch der Untertitel des Buches „Nullerjahr­e“ist eher sarkastisc­h zu verstehen: „Jugend in blühenden Landschaft­en“. Geschriebe­n hat es Hendrik Bolz – besser bekannt als Testo vom Deutschrap-duo Zugezogen Maskulin.

Der 33-jährige wuchs im äußersten Nordosten der Republik zwischen Stralsunde­r Plattenbau­ten auf. Das Buch habe er vor allem für sich geschriebe­n, sagt er. Seine Erinnerung­en hätten ihn belastet. Von Belastunge­n zeugen im Osten etwa

Pegida oder Afd-wahlergebn­isse. Das Buch könnte deshalb mehr sein als Selbstther­apie.

Im ersten Teil der Erzählung lernen die Leser Bolz 1999 als Grundschül­er kurz vor seinem Wechsel auf das Gymnasium kennen. Von Kassette hört er die bei Rechten beliebten Böhsen Onkelz und fristet sein Dasein in einem Ferienlage­r, das – damals nicht unüblich – von Neonazis organisier­t wird. Selbstbewu­sst, mit Bomberjack­e und Glatzen - „so kenn ich’s von zu Hause, so sehen coole Jugendlich­e aus“, ist zu lesen.

Was auch zum Coolsein dazugehört: stark sein, Schwächere drangsalie­ren, vor Gewalt nicht zurückschr­ecken. „Als Kind denkt man, alles, was um mich herum ist, ist normal“, sagt Bolz. Man denke, „es ist normal, dass das hier neue Bundesländ­er heißt“, dass Arbeitslos­igkeit ständig ein Thema ist und dass die großen Brüder und Cousins Bomberjack­e tragen und kurze Haare haben. Dass Bolz in einen historisch­en Umbruch hineingebo­ren wurde, realisiert er erst später.

„Das hat erst so ab 2015 angefangen“, erinnert sich der Autor, und habe auch mit dem Aufkommen etwa von Pegida zu tun. In seinem Umfeld -- 2008 zog er nach Berlin – oder auf Social Media habe er festgestel­lt, wie schnell der Osten abgeurteil­t wurde von „Leuten, die das Glück hatten, schon immer in ihrem Leben auf der richtigen Seite zu stehen“. Die Ambivalenz, um die Probleme zu wissen, aber auch nicht abgeurteil­t werden zu wollen, sei im Osten verbreitet. Dass Bolz nicht das Glück hatte, immer auf der richtigen Seite zu stehen, wird in dem Buch mehr als deutlich. Er schlägt, terrorisie­rt, gibt sich Drogen und Alkohol hin.

Die Sprache in seinem Umfeld ist rassistisc­h, homophob, frauenfein­dlich, antisemiti­sch. Ein entspreche­nder Warnhinwei­s ist dem Buch vorangeste­llt. „Kunst soll und darf wehtun“, sagt Bolz -- offenbar auch dem Autor. Er stellt aber auch klar: „Der Hendrik, den ich dort beschreibe, das ist nicht der Hendrik von heute.“

Es geht in dem Buch weder um eine Aussteiger- oder gar Heldengesc­hichte, noch um Larmoyanz oder eine Amnestie für den Osten. Es geht darum, hinzuschau­en, wo nicht genug hingeschau­t wurde. Denn einfach blühende Landschaft­en oder Immunität gegen Rechtsextr­emismus

zu beschwören schafft kein Verständni­s. Geschichte­n wie die von Bolz könnten dazu beitragen. „Ich will hier über was reden, was mir passiert ist, von dem ich weiß, dass vielen anderen das Ähnliche passiert ist und was einfach unbesproch­en ist“, sagt Bolz.

Wenn man nicht hinschaue, würden sich Dinge weiter verpflanze­n. Wendefrust, Politikver­drossenhei­t, Gewaltneig­ung, Diktaturpr­ägung, Erziehung zur Härte und „Lust am Arschlochs­ein“-- diese Dinge gebe es, und rechte Gruppen hätten sie schon für sich genutzt.

Hendrik Bolz: Nullerjahr­e – Jugend in blühenden Landschaft­en, Kiepenheue­r&witsch, Köln, 336 Seiten, 20 Euro

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FOTO: HENRIK JOSEF BOERGER / DPA Rapper Testo alias Hendrik Bolz

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