„Nullerjahre“– eine ostdeutsche Jugend auf der falschen Seite
Wie Probleme die Nachwendegeneration geprägt haben, beschreibt der Rapper Hendrik Bolz. Sein Buch könnte nicht nur ihm helfen
Stralsund/berlin. Der Begriff der blühenden Landschaften hat für viele Menschen im Osten einen faden Beigeschmack. Auch der Untertitel des Buches „Nullerjahre“ist eher sarkastisch zu verstehen: „Jugend in blühenden Landschaften“. Geschrieben hat es Hendrik Bolz – besser bekannt als Testo vom Deutschrap-duo Zugezogen Maskulin.
Der 33-jährige wuchs im äußersten Nordosten der Republik zwischen Stralsunder Plattenbauten auf. Das Buch habe er vor allem für sich geschrieben, sagt er. Seine Erinnerungen hätten ihn belastet. Von Belastungen zeugen im Osten etwa
Pegida oder Afd-wahlergebnisse. Das Buch könnte deshalb mehr sein als Selbsttherapie.
Im ersten Teil der Erzählung lernen die Leser Bolz 1999 als Grundschüler kurz vor seinem Wechsel auf das Gymnasium kennen. Von Kassette hört er die bei Rechten beliebten Böhsen Onkelz und fristet sein Dasein in einem Ferienlager, das – damals nicht unüblich – von Neonazis organisiert wird. Selbstbewusst, mit Bomberjacke und Glatzen - „so kenn ich’s von zu Hause, so sehen coole Jugendliche aus“, ist zu lesen.
Was auch zum Coolsein dazugehört: stark sein, Schwächere drangsalieren, vor Gewalt nicht zurückschrecken. „Als Kind denkt man, alles, was um mich herum ist, ist normal“, sagt Bolz. Man denke, „es ist normal, dass das hier neue Bundesländer heißt“, dass Arbeitslosigkeit ständig ein Thema ist und dass die großen Brüder und Cousins Bomberjacke tragen und kurze Haare haben. Dass Bolz in einen historischen Umbruch hineingeboren wurde, realisiert er erst später.
„Das hat erst so ab 2015 angefangen“, erinnert sich der Autor, und habe auch mit dem Aufkommen etwa von Pegida zu tun. In seinem Umfeld -- 2008 zog er nach Berlin – oder auf Social Media habe er festgestellt, wie schnell der Osten abgeurteilt wurde von „Leuten, die das Glück hatten, schon immer in ihrem Leben auf der richtigen Seite zu stehen“. Die Ambivalenz, um die Probleme zu wissen, aber auch nicht abgeurteilt werden zu wollen, sei im Osten verbreitet. Dass Bolz nicht das Glück hatte, immer auf der richtigen Seite zu stehen, wird in dem Buch mehr als deutlich. Er schlägt, terrorisiert, gibt sich Drogen und Alkohol hin.
Die Sprache in seinem Umfeld ist rassistisch, homophob, frauenfeindlich, antisemitisch. Ein entsprechender Warnhinweis ist dem Buch vorangestellt. „Kunst soll und darf wehtun“, sagt Bolz -- offenbar auch dem Autor. Er stellt aber auch klar: „Der Hendrik, den ich dort beschreibe, das ist nicht der Hendrik von heute.“
Es geht in dem Buch weder um eine Aussteiger- oder gar Heldengeschichte, noch um Larmoyanz oder eine Amnestie für den Osten. Es geht darum, hinzuschauen, wo nicht genug hingeschaut wurde. Denn einfach blühende Landschaften oder Immunität gegen Rechtsextremismus
zu beschwören schafft kein Verständnis. Geschichten wie die von Bolz könnten dazu beitragen. „Ich will hier über was reden, was mir passiert ist, von dem ich weiß, dass vielen anderen das Ähnliche passiert ist und was einfach unbesprochen ist“, sagt Bolz.
Wenn man nicht hinschaue, würden sich Dinge weiter verpflanzen. Wendefrust, Politikverdrossenheit, Gewaltneigung, Diktaturprägung, Erziehung zur Härte und „Lust am Arschlochsein“-- diese Dinge gebe es, und rechte Gruppen hätten sie schon für sich genutzt.
Hendrik Bolz: Nullerjahre – Jugend in blühenden Landschaften, Kiepenheuer&witsch, Köln, 336 Seiten, 20 Euro