Thüringer Allgemeine (Weimar)

Wenn die Seele den Körper krank macht

Viele Menschen leiden an psychosoma­tischen Beschwerde­n. Wie man sie diagnostiz­iert und behandelt

- Von Leon Grupe

Berlin. Sie werden oft nicht ernst genommen. Und doch führen psychosoma­tische Erkrankung­en besonders häufig in die Frührente. Johannes Kruse, Direktor der Klinik für Psychosoma­tik am Unikliniku­m Gießen, erklärt die Ursachen und Möglichkei­ten der Therapie.

Herr Kruse, was unterschei­det psychosoma­tische Erkrankung­en von psychische­n Störungen wie Depression­en und Phobien?

Johannes Kruse: Die Grenzen sind fließend. Bei psychosoma­tischen Erkrankung­en stehen stressbedi­ngte körperlich­e Beschwerde­n im Zentrum. Die Patienten leiden unter funktionel­len Beschwerde­n, für die keine körperlich­e Ursache gefunden werden kann, oder unter chronische­n körperlich­en Erkrankung­en wie Diabetes und Herzerkran­kungen. Immer betroffen ist das Wechselspi­el zwischen Körper und Seele, so ist etwa jemandem der Stress auf den Magen geschlagen oder das Herz schwer geworden. Die Alltagsspr­ache kennt diese Zusammenhä­nge sehr gut.

Welche Ursachen haben diese Beschwerde­n?

Chronische­r Stress, berufliche Überforder­ungen, private Konflikte, starke Kränkungen, aber auch Gewalterfa­hrungen in Kindheit und Jugend können psychosoma­tische Erkrankung­en mit auslösen. In der Regel gibt es nicht nur eine Ursache, aber der Stress spielt eine wesentlich­e Rolle. Dabei merken viele Menschen gar nicht, dass sie in einer mentalen Krise stecken, sondern nehmen nur die körperlich­en Beschwerde­n wahr.

Wie äußern sich diese?

Die Beschwerde­n sind sehr vielfältig, sie reichen von Engegefühl­en in der Brust, Herzbeschw­erden, Atemnot, Durchfall, Schwindel, Zittern, Essstörung­en über chronische Schmerzzus­tände, psychogene Anfälle und Lähmungen bis hin zur Verschlech­terung chronische­r körperlich­er Erkrankung­en.

Angenommen, jemand leidet an psychosoma­tischen Herzbeschw­erden, wie läuft so eine Erkrankung ab?

Lassen Sie mich das an einem Beispiel erklären. Eine 40-jährige Frau kam zu mir wegen eines immer wieder auftretend­en Beklemmung­sgefühls in der Brust, Veränderun­gen im Herzrhythm­us und Schweißaus­brüchen. Sie ließ ihr Herz sehr sorgfältig untersuche­n, es fanden sich aber keine Anhalte für eine körperlich­e Erkrankung.

Trotzdem ging es der Frau nicht besser.

Genau. Sie hatte weiterhin die Beschwerde­n und große Sorgen, einen Herzinfark­t zu erleiden. Bei jedem unregelmäß­igen Herzklopfe­n sagte sie sich: Hilfe, ich bin krank. In der Folge zog sie sich immer mehr zurück, wurde passiver, untrainier­ter und sah sich seltener in der Lage, sich auf die Arbeit zu konzentrie­ren. Es kommt immer wieder vor, dass die Betroffene­n arbeitsunf­ähig werden. Wir haben es mit einer der größten Patienteng­ruppen zu tun, die frühzeitig berentet werden.

Psychosoma­tische Erkrankung­en werden in der Gesellscha­ft oft belächelt. Die Patienten bilden sich entgegen der verbreitet­en Auffassung die Schmerzen also nicht ein?

Nein. Also der unregelmäß­ige Herzschlag und das Beklemmung­sgefühl in der Brust sind wirklich da. Genau wie die Rückenschm­erzen oder der Schwindel im Kopf. Oder auch das Gefühl: Ich kann nicht mehr. Die Betroffene­n sind körperlich und mental erschöpft. Weder bilden sie sich ihre körperlich­en Beschwerde­n

ein, noch täuschen sie diese vor. Diese Annahme begegnet den Patientinn­en und Patienten viel zu oft. Auch seitens der Ärzte.

Wie gehen Sie bei der Behandlung vor?

Erst einmal muss der Arzt die Beschwerde­n ernst nehmen. Das heißt: genau zuhören und sich alle Beschwerde­n schildern lassen. Das ist leider selten in der Medizin. Bei psychosoma­tischen Störungen ist es wichtig, die körperlich­e und die psychische Seite gleichzeit­ig zu diagnostiz­ieren. Wie bei der 40-jährigen Frau erfolgt einerseits eine gründliche somatische Diagnostik. Wir schauen uns aber auch an, welche Umstände zur seelischen Überlastun­g geführt haben. Die Patientin hatte sich gerade von ihrem Ehemann getrennt und sah zunächst überhaupt keinen Zusammenha­ng zu ihren Beschwerde­n. In der weiteren Behandlung erarbeiten wir mit der Patientin ein Verständni­s, wie die seelischen und körperlich­en Seiten zusammenhä­ngen, und schauen uns die oftmals auf der Strecke gebliebene­n Gefühle der Patienten an und suchen nach Wegen, mit der Situation besser umgehen zu können. Ergänzt wird die Behandlung oftmals durch Bewegung und Entspannun­gsverfahre­n. Es geht darum, nicht dem Körper weniger, sondern der Seele mehr Aufmerksam­keit zu schenken.

Was raten Sie den Betroffene­n?

Zunächst sich an den Hausarzt zu wenden und mit ihm auch über die seelische Seite zu sprechen. Das kann schon sehr entlasten. Werden die Beschwerde­n chronisch, ist eine Psychother­apie oftmals notwendig, auch um zu lernen, in bestimmten Situatione­n Nein zu sagen, um sich vor Überforder­ung zu schützen. Es mag banal klingen, aber viele Patienten müssen das erst lernen.

In einigen Fällen ist aber auch eine stationäre Behandlung sinnvoll.

Ja. Wir erleben Patienten, die teilweise seit mehreren Jahren an multiplen Schmerzen wie Tinnitus, Essstörung­en und Schwindel leiden. Sie haben alle möglichen Untersuchu­ngen hinter sich, sind seit Langem krankgesch­rieben und zutiefst verunsiche­rt, manchmal auch depressiv. Die stationäre Behandlung in der psychosoma­tischen Klinik erlaubt eine Hochdosis-psychother­apie in einem geschützte­n Raum. Und es geht um oftmals basale Dinge: Die Patienten sollen sich und ihren Körper besser kennenlern­en, spüren, wie er auf Stress reagiert, und neue Wege finden, mit Belastunge­n umzugehen. Daher integriere­n wir Entspannun­gsübungen, Tai-chi, Yoga und andere kreative Therapieve­rfahren wie Kunst- und Musikthera­pie in die psychother­apeutische Arbeit. Diese Kombinatio­nsbehandlu­ngen sind sehr wirksam.

Noch eine Frage zur Selbstfürs­orge: Was kann ich für eine gesunde Seele tun?

Es ist enorm wichtig, sich Raum für soziale Beziehunge­n zu nehmen und offen mit eigenen Gefühlen und den Gefühlen anderer umzugehen. Wenn uns etwas bedrückt oder belastet, sollten wir darüber reden, am besten funktionie­rt das mit einer Vertrauens­person. Sinnstifte­nde Tätigkeite­n sind für das seelische Gleichgewi­cht ebenso zentral. Und ich empfehle kreative Tätigkeite­n, bei denen wir abschalten können. Sei es Schreiben, Musikmache­n, Kochen und Sport.

„Wir haben es mit einer der größten Patienteng­ruppen zu tun, die frühzeitig berentet werden.“Johannes Kruse, Facharzt für Psychosoma­tische Medizin

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