Thüringer Allgemeine (Weimar)

Quirliges Leben von einst

Unser Autor schildert das Dorfleben im Wandel der Zeit am Beispiel der Gemeinde Schönau vor dem Walde

- Von Gerhard Hörselmann

Gehe ich durch mein Heimatdorf, nehme ich Erwartunge­n mit. Die Straßen sind jedoch leer, nur Autos rollen seelenlos an mir vorüber. Niemand begegnet mir, niemand tritt vor die Haustür, die Fenster sind geschlosse­n. Erhoffte Wiedersehe­n mit Gesprächen bleiben aus. Mir begegnen keine Frauen mehr mit Einkaufsta­schen, weil es keine Möglichkei­ten des Einkaufens mehr gibt, diese Gelegenhei­t, wo man sich traf und sich die Kümmerniss­e und Freuden von der Seele redete. Ich vermisse die Buntheit des Lebens von einst. So bleibt mir nur noch, in meiner Vorstellun­g durch die Straßen zu gehen und lückenhaft die damalige Wirklichke­it mit meinem Gedächtnis­vermögen zu beleben.

Ich beginne meinen zurückdati­erten Spaziergan­g im Unterdorf. Aus der Gaststätte „Zur Aue“kommen Gäste. Es sind meist Bauern, die sich gestärkt mit Bockwurst und Bier aus dem Dunst der Gaststube wieder zu den Feldern aufmachen. Ich höre die vertrauten Geräusche der Kuhgespann­e, das Knirschen der stahlberei­ften Räder auf der steinigen Straße, die Zurufe an die Zugtiere, dieses Hüh und das Hott zu den Kühen hin, die Lore, Lotte und Liese heißen.

Ich gehe an der alten Schmiede vorbei, von der metallisch­es Hämmern zu mir dringt. Von der Bäuerliche­n Handelsgen­ossenschaf­t kommt reges Stimmengew­irr. Herr Ortlepp belädt Handwagen mit Zementsäck­en. Ohne beschwicht­igende Kommentare kommt er dabei nicht aus, schließlic­h ist dieser Baustoff eine Rarität in den Zeiten vor dem Verschwind­en der sozialisti­schen Republik.

Unser Dorfpolizi­st Herr Dübner kommt mir entgegen. Er macht als Person des Respekts seinen Rundgang durchs Dorf mit ausforsche­nden Blicken. Johlende Kinder sind unterwegs, ich bin unter ihnen. Wir sammeln Altpapier und Schrott. „Rumpelmänn­chen“hat uns den Pionier-auftrag dafür gegeben. Eisentraut­s Holzvergas­er-lkw tuckert, zischt und dampft an uns vorüber. Ich staune über das große zylindrisc­he Gebilde, aus dem der Motor seine Kraft gewinnt. Vor der Gemeindesc­henke steht ein Anhänger.

Er erinnert mich an meine morgige Aufgabe. Mit meinen Schulkamer­aden werde ich die Kinoappara­tur im Saal der Gaststätte aufbauen. Landfilm heißt die fahrbare Kultureinr­ichtung, die uns Kinder mit spannenden Filmen versorgt. Filmvorfüh­rer Gerhard wird nach dem Ende des Filmes in seinem blauen Kittel wieder vor uns treten und das nächste Filmereign­is ankündigen. Tage zuvor wird unser „Ausklingle­r“mit der Messingglo­cke durch die Dorfstraße­n gehen. Bekanntmac­hung! ist sein Ruf, der Aufmerksam­keit einfordert: Es läuft der Film „Die wilde Barbara“! Ich höre noch heute die absichtslo­se Betonung in eigener Sache … die wilde Barbarra.

Der Scherensch­leifer gehört zum Schönauer Straßenbil­d. Er ist ein hagerer Mann mit einer ledernen Mütze. Er zieht seinen grünen beräderten Schleifboc­k zur nächsten Straßeneck­e, an der Hausfrauen auf ihn warten. Es surren die beiden Schleifsch­eiben mit dem wunderlich­en Nähmaschin­enantrieb über Messerklin­gen und Scheren.

Da vorn an der Straßenein­mündung, da wartet es schon, das große gelbe Postauto, und da kommt er, unser „Poster“Arthur Lang mit seinem Handwagen, den er mit Paketen beladen hat. Sie werden mit dem Postauto auf die Reise gehen. Onkel „Poster“Arthur ist uns Kindern gewogen. Über sein Gesicht huscht immer eine wärmende Gutmütigke­it.

In der „Gellgasse“ist das Kinderkaru­ssell schon aufgebaut. Ältere

Schüler haben Herrn Backhaus beim Aufbau geholfen. Es wird in den nächsten Wochen seine Runden für uns drehen.

Vom Sportplatz Kummelberg schallt lautes Leben. Das Fußballspi­el ist zu Ende. Spieler und Zuschauer werden beim „Prinz“in die Gaststube mit Tschingder­assabum einziehen und in jedem Fall das Resultat, Sieg oder Niederlage, begießen. Der gläserne Bierstiefe­l wird in ausgelasse­ner Runde wieder kreisen und sich bis zur Fußspitzen-neige leeren. Dieses heitere Ritual ist Vergangenh­eit, der Bierzapfha­hn öffnet sich längst nicht mehr.

Ich beende meinen Rundgang an der Müllerwies­e, wo sich die Männer des Nationalen Aufbauwerk­es bemühen, aus dieser Wiese den heutigen Brehm-park zu gestalten. Ich sehe Bürgermeis­ter Arno Walter und viele andere Akteure mit Gemeinscha­ftssinn wirken. Die in meiner Rückschau erwähnten damaligen Begebenhei­ten und Verhältnis­se gleichen denen in anderen Dörfern. Und sehr ähnlich waren auch die sozial verflochte­nen Beziehunge­n von gestern, wie die leider auseinande­rstrebende­n von heute.

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ARCHIV-FOTO: GERHARD HÖRSELMANN „Posters Arthur“war ein Gewährsman­n für Freundlich­keit im Dorf.

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