Quirliges Leben von einst
Unser Autor schildert das Dorfleben im Wandel der Zeit am Beispiel der Gemeinde Schönau vor dem Walde
Gehe ich durch mein Heimatdorf, nehme ich Erwartungen mit. Die Straßen sind jedoch leer, nur Autos rollen seelenlos an mir vorüber. Niemand begegnet mir, niemand tritt vor die Haustür, die Fenster sind geschlossen. Erhoffte Wiedersehen mit Gesprächen bleiben aus. Mir begegnen keine Frauen mehr mit Einkaufstaschen, weil es keine Möglichkeiten des Einkaufens mehr gibt, diese Gelegenheit, wo man sich traf und sich die Kümmernisse und Freuden von der Seele redete. Ich vermisse die Buntheit des Lebens von einst. So bleibt mir nur noch, in meiner Vorstellung durch die Straßen zu gehen und lückenhaft die damalige Wirklichkeit mit meinem Gedächtnisvermögen zu beleben.
Ich beginne meinen zurückdatierten Spaziergang im Unterdorf. Aus der Gaststätte „Zur Aue“kommen Gäste. Es sind meist Bauern, die sich gestärkt mit Bockwurst und Bier aus dem Dunst der Gaststube wieder zu den Feldern aufmachen. Ich höre die vertrauten Geräusche der Kuhgespanne, das Knirschen der stahlbereiften Räder auf der steinigen Straße, die Zurufe an die Zugtiere, dieses Hüh und das Hott zu den Kühen hin, die Lore, Lotte und Liese heißen.
Ich gehe an der alten Schmiede vorbei, von der metallisches Hämmern zu mir dringt. Von der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft kommt reges Stimmengewirr. Herr Ortlepp belädt Handwagen mit Zementsäcken. Ohne beschwichtigende Kommentare kommt er dabei nicht aus, schließlich ist dieser Baustoff eine Rarität in den Zeiten vor dem Verschwinden der sozialistischen Republik.
Unser Dorfpolizist Herr Dübner kommt mir entgegen. Er macht als Person des Respekts seinen Rundgang durchs Dorf mit ausforschenden Blicken. Johlende Kinder sind unterwegs, ich bin unter ihnen. Wir sammeln Altpapier und Schrott. „Rumpelmännchen“hat uns den Pionier-auftrag dafür gegeben. Eisentrauts Holzvergaser-lkw tuckert, zischt und dampft an uns vorüber. Ich staune über das große zylindrische Gebilde, aus dem der Motor seine Kraft gewinnt. Vor der Gemeindeschenke steht ein Anhänger.
Er erinnert mich an meine morgige Aufgabe. Mit meinen Schulkameraden werde ich die Kinoapparatur im Saal der Gaststätte aufbauen. Landfilm heißt die fahrbare Kultureinrichtung, die uns Kinder mit spannenden Filmen versorgt. Filmvorführer Gerhard wird nach dem Ende des Filmes in seinem blauen Kittel wieder vor uns treten und das nächste Filmereignis ankündigen. Tage zuvor wird unser „Ausklingler“mit der Messingglocke durch die Dorfstraßen gehen. Bekanntmachung! ist sein Ruf, der Aufmerksamkeit einfordert: Es läuft der Film „Die wilde Barbara“! Ich höre noch heute die absichtslose Betonung in eigener Sache … die wilde Barbarra.
Der Scherenschleifer gehört zum Schönauer Straßenbild. Er ist ein hagerer Mann mit einer ledernen Mütze. Er zieht seinen grünen beräderten Schleifbock zur nächsten Straßenecke, an der Hausfrauen auf ihn warten. Es surren die beiden Schleifscheiben mit dem wunderlichen Nähmaschinenantrieb über Messerklingen und Scheren.
Da vorn an der Straßeneinmündung, da wartet es schon, das große gelbe Postauto, und da kommt er, unser „Poster“Arthur Lang mit seinem Handwagen, den er mit Paketen beladen hat. Sie werden mit dem Postauto auf die Reise gehen. Onkel „Poster“Arthur ist uns Kindern gewogen. Über sein Gesicht huscht immer eine wärmende Gutmütigkeit.
In der „Gellgasse“ist das Kinderkarussell schon aufgebaut. Ältere
Schüler haben Herrn Backhaus beim Aufbau geholfen. Es wird in den nächsten Wochen seine Runden für uns drehen.
Vom Sportplatz Kummelberg schallt lautes Leben. Das Fußballspiel ist zu Ende. Spieler und Zuschauer werden beim „Prinz“in die Gaststube mit Tschingderassabum einziehen und in jedem Fall das Resultat, Sieg oder Niederlage, begießen. Der gläserne Bierstiefel wird in ausgelassener Runde wieder kreisen und sich bis zur Fußspitzen-neige leeren. Dieses heitere Ritual ist Vergangenheit, der Bierzapfhahn öffnet sich längst nicht mehr.
Ich beende meinen Rundgang an der Müllerwiese, wo sich die Männer des Nationalen Aufbauwerkes bemühen, aus dieser Wiese den heutigen Brehm-park zu gestalten. Ich sehe Bürgermeister Arno Walter und viele andere Akteure mit Gemeinschaftssinn wirken. Die in meiner Rückschau erwähnten damaligen Begebenheiten und Verhältnisse gleichen denen in anderen Dörfern. Und sehr ähnlich waren auch die sozial verflochtenen Beziehungen von gestern, wie die leider auseinanderstrebenden von heute.