Thüringer Allgemeine (Weimar)

Im Widerstand gegen die russischen Besatzer

Gleich zu Beginn des Ukraine-kriegs fiel Cherson in die Hände der Invasoren. Die Bewohner geben den Kampf um ihre Freiheit bis heute nicht auf

- Jan Jessen

Cherson. Die Bilder der Menschen, die für das russische Besatzungs­regime arbeiten, landen immer wieder in den Briefkäste­n der verblieben­en Einwohner von Cherson. Nachts werden sie an Wände geklebt. „Du wirst der Nächste sein“, steht auf manchen. Auf anderen: „Verräter werden nicht überleben.“Die Kollaborat­eure von Cherson haben Namen und Gesichter und sie leben gefährlich in der ukrainisch­en Regionalha­uptstadt, die im März von den russischen Invasoren eingenomme­n wurde. Im Süden der Ukraine zeigt sich für Moskau, wie schwierig es ist, ein Besatzungs­regime in einer zutiefst feindlich gesinnten Umgebung aufrechtzu­erhalten. Für die Ukraine ist Cherson zu einem Symbol der Hoffnung geworden, weil hier in den vergangene­n Wochen kleinere militärisc­he Erfolge erzielt werden konnten. Die Botschaft ist: Der übermächti­ge Feind ist verwundbar.

In Cherson lebten vor dem Beginn des russischen Überfalls etwa 300.000 Menschen. In den ersten Kriegstage­n fiel die Stadt nahezu kampflos an die russischen Truppen, die über die Fernstraße M17 von der seit 2014 besetzten Halbinsel Krim aus in die Region vorstoßen konnten, weil die militärisc­he Führung der Ukraine katastroph­ale Fehler machte.

In der Ukraine heißt es auch, Verrat könne Ursache für den raschen Fall der Stadt gewesen sein. Die Antoniwka-brücke als das entscheide­nde Nadelöhr in die Stadt hinein war nicht rechtzeiti­g gesprengt worden. Der spontan organisier­te Widerstand einiger Einwohner der Stadt brach rasch zusammen. Protestkun­dgebungen von Bürgern wurden mit Tränengas und scharfer Munition auseinande­rgetrieben. Viele Menschen wurden an der Flucht aus der Stadt gehindert. Ein strategisc­her Fehler der Besatzer. Manche derjenigen, die in Cherson bleiben mussten, sind jetzt im Widerstand aktiv, der in den vergangene­n Wochen immer wieder in der gesamten Region zugeschlag­en hat.

Um den Widerstand zu brechen, gehen die Besatzer brachial vor Das prominente­ste Opfer könnte der von den Besatzern installier­te Defacto-gouverneur der Region sein. Volodymyr Saldo liegt mit schweren Vergiftung­serscheinu­ngen in einem Moskauer Krankenhau­s, in das er am 5. August eingelie„european fert wurde. Der 66-jährige gebürtige Ukrainer ist das Feindbild schlechthi­n für diejenigen, die gegen die russische Besatzung kämpfen. Er war zwischen 2002 und 2012 Bürgermeis­ter von Cherson und saß bis 2014 für die Partei des im Zuge der Maidan-proteste gestürzten prorussisc­hen Präsidente­n Viktor Janukowits­ch im ukrainisch­en Parlament. Kurz nach der Besetzung Chersons wurde er von den Russen als Leiter der Militärver­waltung installier­t. Bereits am 20. März war einer seiner Assistente­n bei einem Angriff getötet worden.

Wie organisier­t der Widerstand ist und ob tatsächlic­h ukrainisch­e Partisanen oder der ukrainisch­e Geheimdien­st SBU hinter den feindliche­n Linien operieren, lässt sich nicht genau sagen. Jedoch finden sich sowohl auf pro-ukrainisch­en wie auch pro-russischen Telegram-kanälen immer wieder Berichte über Anschläge auf Menschen, die sich den Besatzern ob aus ideologisc­hen oder opportunis­tischen Gründen angedient haben.

Die ständigen Angriffe und die öffentlich­e Markierung von Kollaborat­euren zeigen Wirkung. „Die Leute, die auf Russland gesetzt haben, haben angefangen, das ernst zu nehmen“, sagt Gustav Gressel, Militärexp­erte der Berliner Denkfabrik Council on Foreign Relations“. Die Folge: Es melden sich weniger Menschen, die für die Besatzer arbeiten wollen. Moskau muss die ausgedünnt­en Stellen in den Verwaltung­en mit eigenen Kräften füllen, häufig sind dies Kräfte des russischen Geheimdien­stes FSB.

Zugleich versuchen die Besatzer, die Russifizie­rung der Region voranzutre­iben. In den Schulen werden russische Lehrpläne eingeführt, Zahlungsmi­ttel ist der Rubel, das Steuer- und Rechtssyst­em werden angepasst. Um den Widerstand zu brechen, gehen die Besatzer brachial vor. Razzien, Festnahmen, Folter und außergeric­htliche Hinrichtun­gen sind an der Tagesordnu­ng. Am 12. August wird die Leiche eines Mannes im Fluss Dnipro gefunden, sie weist Folterspur­en auf. Wenige Tage zuvor gab der Fluss die Leichen zweier Aktivisten frei.

Das Internet funktionie­rt nur noch selten

„Vor ein paar Tagen haben die Russen mein Haus durchsucht und alles auf den Kopf gestellt“, berichtet Petr Zenenko. Zenenko ist ein Geschäftsm­ann aus Cherson. In den vergangene­n Monaten hatte unsere Redaktion immer wieder Kontakt mit ihm, er hatte uns unter einem Pseudonym erzählt, was in Cherson vorgeht. Jetzt hat er es geschafft, aus der Stadt herauszuko­mmen. „Ich hatte auf meine Frau gehört und alle ukrainisch­en Nationalsy­mbole in meinem Garten vergraben. Zum Glück haben sie nichts gefunden.“

Zenenko sagt, die Besatzer versuchten, das öffentlich­e Leben in Cherson zu regeln. „Aber niemand nimmt sie ernst.“Das Internet funktionie­re nur noch selten, weil die Okkupation­skräfte es herunterdr­osselten, damit sich niemand informiere. „Das Leben in Cherson ist dunkel. Es ist schlimmer als in den 90er-jahren.“

Militärisc­h ein größeres Problem als die Attacken auf Kollaborat­eure oder Sabotageak­tionen ist für die Besatzer, dass ukrainisch­e Kräfte hinter den feindliche­n Linien offenbar militärisc­he Ziele ausspionie­ren und so präzise Artillerie­schläge auf russische Kommandopo­sten, Waffenlage­r und Mannschaft­squartiere möglich machen. Außerdem mussten die russischen Streitkräf­te bereits Truppen aus dem Osten in den Süden verlegen. „Schon vor dem Überfall hat sich das ukrainisch­e Militär auf einen Guerilla-krieg vorbereite­t und ist von britischen und Us-spezialkrä­ften entspreche­nd trainiert worden“, sagt Militärexp­erte Gressel. Das ukrainisch­e Militär lerne jetzt, die Schwächen und Fehler der Russen auszunutze­n und erziele vereinzelt Erfolge. So sollen in den vergangene­n Wochen über 50 kleinere Siedlungen nordwestli­ch von Cherson zurückerob­ert worden sein.

Für die von der ukrainisch­en Führung angekündig­te Großoffens­ive scheinen jedoch noch die nötige Feuerkraft und gepanzerte­n Fahrzeuge zu fehlen. „Die Russen verstärken täglich ihre Stellungen. Diese eingegrabe­nen Stellungen müssen überwunden und offenes Gelände durchquert werden. Die dafür nötigen Panzer und Schützenpa­nzer haben die Ukrainer nicht“, so Gressel.

Zerstörung wichtiger Brücken erschwert Russen den Nachschub Die Artillerie­angriffe scheinen jedoch Wirkung zu erzielen. Laut ukrainisch­en Medienberi­chten haben russische Kommandeur­e ihre Kommandopo­sten am rechten Ufer des Dnipro bei Cherson verlassen und sich auf die andere Seite des Flusses zurückgezo­gen. Zudem sind nun alle strategisc­h wichtigen Brücken in der Region zumindest schwer beschädigt worden, was den russischen Nachschub enorm erschwert und dazu führen könnte, dass bis zu 12.000 russische Soldaten eingekesse­lt werden.

Auch die Anatovski-brücke ist von schweren Treffern gezeichnet. „Wenn ich es schaffe, mit Menschen in Cherson zu sprechen, dann sagen sie, dass jede Explosion auf der Brücke wie eine Brise frische Luft ist“, sagt Petr Zenenko, der Geschäftsm­ann, der aus seiner Heimatstad­t geflohen ist.

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PA / DPA/TASS Fahrzeuge der russischen Besatzer patrouilli­eren in der Stadt. Sie tragen das „Z“, das Symbol für Russlands Krieg gegen die Ukraine.

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