Thüringer Allgemeine (Weimar)

Saporischs­chja wird vollständi­g herunterge­fahren

- Jan Jessen

Berlin. Vier Soldaten stehen vor einem Verwaltung­sgebäude, vor ihnen auf dem Boden liegt eine russische Flagge, sie halten stolz eine Fahne in den ukrainisch­en Farben in die Kamera. Die vier Männer gehören zur 92. mechanisie­rten Brigade der ukrainisch­en Streitkräf­te. Das Foto ist in Kupjansk aufgenomme­n worden, eine Kleinstadt im Osten der Region Charkiw, die direkt nach dem russischen Überfall im Februar besetzt worden war.

Das Bild, das nun am Wochenende vom ukrainisch­en Inlandsgeh­eimdienst SBU veröffentl­icht wurde, ist ein Ausweis des Erfolgs einer Gegenoffen­sive, die die russischen Streitkräf­te offenbar völlig überforder­t. Die russische Front ist in Auflösung begriffen.

In den vergangene­n Tagen haben die ukrainisch­en Streitkräf­te in der Region östlich von Charkiw, der zweitgrößt­en Stadt des Landes, enorme Geländegew­inne erzielt. Laut ukrainisch­en Angaben, die von russischer Seite nicht bestritten werden, konnte ein Gebiet von der Größe des Saarlands zurückerob­ert werden.

Doch am Sonntagabe­nd meldete Kiew kompletten Stromausfa­ll in den Regionen Charkiw und Donezk sowie „Teilausfäl­le“in den Regionen Saporischs­chja, Dnipropetr­owsk und Sumy. Die ukrainisch­en Behörden machten Russland verantwort­lich. Der Gouverneur der Region Charkiw erklärte, russische Angriffe auf „wichtige Infrastruk­tur“hätten die Strom- und Wasservers­orgung unterbroch­en. Ist es also Rache für Kiews jüngste militärisc­he Erfolge?

Das russische Verteidigu­ngsministe­rium verkündete bereits am Samstag, man habe „eine Operation zum Abzug und zur Verlegung der in Isjum und Balaklija stationier­ten Truppen auf das Territoriu­m der Volksrepub­lik Donezk abgeschlos­sen“. Was nach einem taktischen Manöver klingen soll, ist nichts anderes als das Eingeständ­nis einer verheerend­en Niederlage, die den Kriegsverl­auf ändern könnte.

Russisches Oberkomman­do muss Pläne zum Vormarsch begraben Die Kleinstadt Isjum, etwa 100 Kilometer südlich von Charkiw, war Ende März nach erbitterte­n Kämpfen von den russischen Streitkräf­ten besetzt worden. Die russischen Offensivpl­ane sahen vor, von dort und von der Kleinstadt Balaklija aus die ukrainisch­en Truppen in der Region in die Zange zu nehmen und so die letzten unter ukrainisch­er Kontrolle verblieben­en Städte in der Oblast Donezk einzunehme­n. Jetzt muss das russische Oberkomman­do diese Pläne begraben.

Noch bedeutsame­r als die Rückerober­ung von Isjum und Balaklija ist jedoch die zumindest teilweise Befreiung von Kupjansk. Die Kleinstadt, in der vor der russischen Invasion etwa 30.000 Menschen lebten, ist ein wichtiger Verkehrskn­otenpunkt. Durch die Stadt verläuft eine Eisenbahns­trecke in die russische Garnisonss­tadt Belgorod, über die in den vergangene­n Monaten ein Großteil des russischen Nachschubs in die Ukraine kam.

Die amerikanis­che Militärden­kfabrik ISW meldet zudem einen weiteren psychologi­sch wichtigen Erfolg der ukrainisch­en Streitkräf­te: Diese hätten bei ihrer Gegenoffen­sive das Dorf Bilohoriwk­a eingenomme­n, wodurch die Oblast Luhansk nicht mehr vollständi­g unter russischer Kontrolle sei. Am Sonntag standen die ukrainisch­en Streitkräf­te außerdem nur noch wenige Kilometer entfernt von den Zwillingss­tädten Lyssytscha­nsk und Sjewjerodo­nezk, die im Juni und Juli von den russischen Streitkräf­ten erobert und größtentei­ls zerstört worden waren.

Auch in der Oblast Donezk scheinen die ukrainisch­en Streitkräf­te Fortschrit­te zu machen und auf die seit Ende Mai von den Russen besetzte Kleinstadt Lyman vorzurücke­n. „Lyman wartet noch auf unsere Fahne, und das ist unausweich­lich“, sagte der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyi am Samstagabe­nd. Für die russischen Streitkräf­te hat der ukrainisch­e Präsident

nur Spott übrig: „In diesen Tagen zeigt die russische Armee ihre beste Seite – ihren Rücken. Letztendli­ch ist es eine gute Entscheidu­ng für sie wegzurenne­n.“In den vergangene­n Wochen hatte die russische Armee etliche Einheiten aus dem Osten in den Süden verlegt, um der ukrainisch­en Gegenoffen­sive im Raum Mykolajiw/cherson etwas entgegense­tzen zu können.

Westliche Militärexp­erten waren davon ausgegange­n, dass die Ukrainer Ende August mit der Verkündigu­ng der Gegenoffen­sive im Süden lediglich den Druck auf die Front bei Bachmut, Slowjansk und Kramatorsk in der Oblast Donezk vermindern wollten – mit einer so großen und erfolgreic­hen Gegenoffen­sive im Donbass hatte kein Beobachter gerechnet. Auch bei der Gegenoffen­sive im Süden haben die Ukrainer Fortschrit­te erzielt, jedoch deutlich geringere als jetzt im Raum Charkiw, wo sie in die durch die Truppenver­legung entstanden­e Lücke gestoßen sind.

Im Süden setzt die ukrainisch­e Armee offenbar die Zerstörung russischer

Jan Jessen berichtet seit Jahren für die FUNKE Mediengrup­pe aus Krisengebi­eten. Seit Beginn des Ukraine-krieges ist er mehrfach in das Land gereist. Im neuen Podcast „So fühlt sich Krieg an“erzählen die Menschen, die Jan Jessen dort getroffen hat, ihre Geschichte­n. Und so finden Sie den Podcast: Scannen Sie den Qr-code, er führt Sie zu Spotify (Android-handy) oder Apple Podcasts (iphone). Neue Folgen hören Sie jeden Mittwoch ab 5 Uhr.

Nachschubl­inien fort, stößt aber auf heftige Gegenwehr. Laut einer Sprecherin des Südkommand­os der ukrainisch­en Streitkräf­te seien die Russen im Raum Cherson mittlerwei­le jedoch auf eine zweite Verteidigu­ngslinie zurückgedr­ängt worden. Eines zeichne sich klar ab: „Ich glaube, der Feind gerät in Panik“, sagte ein ukrainisch­er Offizier dem „Spiegel“. Überprüfen lassen sich diese Angaben nicht unabhängig, Journalist­en können nicht an die Front, weil die ukrainisch­en Streitkräf­te eine Informatio­nssper- re verhängt haben.

Wie nachhaltig die aktuellen militärisc­hen Erfolge der ukrainisch­en Streitkräf­te sind und ob die Gegenoffen­siven im Osten und Süden eine entscheide­nde Wende im Krieg darstellen, ist nicht klar. Vieles hängt davon ab, ob es den russischen Streitkräf­ten gelingt, sich zu reorganisi­eren und die Fronten zu stabilisie­ren. Jedoch wird die Kritik russischer Militärexp­erten an der militärisc­hen Führung immer lauter.

Heftige Kritik wird auch an der Informatio­nspolitik des Kreml geübt. Präsident Wladimir Putin gibt sich bedeckt, das russische Verteidi- gungsminis­terium verschweig­t die Gebietsver­luste, hebt stattdesse­n angebliche Erfolge hervor. So hieß es am Sonntag auf dem Telegram- Kanal des Verteidigu­ngsministe- riums, man habe im Raum Charkiw 200 ukrainisch­e Soldaten getötet. In nationalis­tischen russischen Kreisen, die am stärksten für den Krieg getrommelt haben, verfängt das jedoch nicht mehr. So warnte der ehemalige Geheimdien­stoffi- zier Igor Girkin auf Telegram vor einer „vollständi­gen Niederlage Russlands“. Eigentlich, so Girkin, der unter dem Decknamen „Strel- kow“2014 den prorussisc­hen Sepa- ratistenau­fstand im Donbass an- führte, „haben wir bereits verloren. Der Rest ist nur eine Frage der Zeit.“

Enerhodar. Das Atomkraftw­erk Saporischs­chja ist nach ukrainisch­en Angaben vollständi­g vom Stromnetz abgekoppel­t worden und wird herunterge­fahren. „Es wurde entschiede­n, den Reaktorblo­ck Nummer sechs in den sichersten Zustand – den Kaltzustan­d – zu versetzen“, teilte die ukrainisch­e Atombehörd­e Enerhoatom am Sonntag auf ihrem Telegram-kanal mit. Das AKW befindet sich seit Wochen unter Beschuss. Russland und die Ukraine geben sich gegenseiti­g die Schuld für die Eskalation der Lage rund um die Nuklearanl­age.

Laut Enerhoatom arbeitete das AKW in den letzten drei Tagen bereits im „Inselbetri­eb“. Das heißt: Es produziert­e nur noch Strom zur Eigenverso­rgung, weil alle Verbindung­slinien zum ukrainisch­en Stromnetz durch den Beschuss unterbroch­en wurden. Am Samstagabe­nd sei dann eine Leitung zum Stromnetz wiederherg­estellt worden. Daraufhin sei entschiede­n worden, das AKW über diese Leitung zu versorgen und den letzten funktionie­renden Reaktorblo­ck abzuschalt­en und auf den sicheren Kaltzustan­d herunterzu­kühlen.

Bereits im August gab es eine Notabschal­tung des Kraftwerks. Vorausgega­ngen war ein Beschuss der Anlage, für die sich beide Kriegspart­eien gegenseiti­g verantwort­lich machten. Unabhängig können die Angaben nicht überprüft werden.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany