Thüringer Allgemeine (Weimar)

Was Lauterbach in Israel sucht

Der Gesundheit­sminister ändert seine Tonlage – und holt sich Inspiratio­n im Heiligen Land

- Julia Emmrich

Jerusalem. Früher war Karl Lauterbach­s Markenzeic­hen die Fliege. Jetzt ist es die schwarze Ffp2-maske. Hinter der Maske ist Lauterbach­s schmales Gesicht in den vergangene­n Monaten noch kantiger geworden. Das Amt zehrt. Und der 59-Jährige ist nicht der Typ Politiker, der bei Stress Polster aufbaut.

Wer in diesen Tagen mit Lauterbach unterwegs ist, bekommt strenge Anweisunge­n. Fast durchgängi­g herrscht Maskenpfli­cht in seiner Umgebung. Bei Begrüßunge­n ist auf ein Händeschüt­teln zu verzichten, tägliche Selbsttest­s sind dringend erwünscht. Eine Reise mit dem Gesundheit­sminister ist wie eine stete Ermahnung: Die Pandemie ist nicht vorbei.

Auf dem Flug nach Israel, wo Lauterbach noch bis Dienstag mit Experten über die Pandemie und über die Lehren für die Zukunft spricht, tragen alle folgsam ihre Ffp2-maske. Ein Bild, das demnächst kaum noch zu sehen sein wird: Dass die Maskenpfli­cht im Flugverkeh­r auf Betreiben der FDP ab dem 1. Oktober wegfällt, ist für den Epidemiolo­gen eine bittere Pille, doch er schluckt sie: Es sei eben ein „Geben und Nehmen“in einer Koalition.

Lauterbach ist vier Mal geimpft und einmal genesen

Hinter den Kulissen aber muss der SPD-MANN mit seinen Fdp-kollegen heftig gerungen haben – bis ein Kompromiss herauskam, der zumindest draußen im Land als Sieg der Liberalen gewertet wurde. Öffentlich­e Seitenhieb­e auf die FDP verkneift er sich, auf dem Flug nach Israel trägt er sogar einen genscherge­lben Pullover. Soll keiner sagen, er würde die krawallige Stimmung in der Ampel auch noch durch Attacken auf den liberalen Koalitions­partner anheizen.

Lauterbach – plötzlich leise. Keine Alarmstimm­ung mehr, stattdesse­n eine neue Tonlage. Was ist da los? Ist auf einmal alles in Butter mit der Pandemie? Mit Blick auf den Herbst erwartet der Minister jetzt eine „mittelschw­ere“Welle. Dabei ist seine Sorge nach wie vor groß, dass im Herbst eine neue Virusvaria­nte kommen könnte.

Jeder Omikron-subtyp, von BA.1 über BA.2 bis zu BA.5, sei tendenziel­l etwas gefährlich­er geworden. Aber: „Wir sind sehr gut vorbereite­t“, sagt Lauterbach. Es klingt, als schlügen da zwei Seelen in seiner Brust. Hier der Wissenscha­ftler, der sich alles ausmalen kann. Dort der

Minister, der etwas tun muss, ohne wirklich zu wissen, was kommt.

Lauterbach ist längst vier Mal geimpft und einmal genesen. Anfang August hatte ihn das Virus erwischt. Er trägt trotzdem stoisch seine Maske, auch am Abend nach der Ankunft in Israel, als er sich in Jerusalem mit dem neuen deutschen Botschafte­r trifft, Angela Merkels früherem Regierungs­sprecher Steffen Seibert. Seibert war wie seine Chefin immer ein Stammspiel­er im Team Vorsicht, alle drei verstehen sich noch immer gut.

Pandemieer­klärer und Warner – das war bisher Lauterbach­s Markenkern. Seine Expertise, seine Talkshowau­ftritte, seine klaren Ansagen in der Zeit, als Jens Spahn noch Merkels Gesundheit­sminister war, haben ihn überhaupt ins Amt gebracht. Im Herbst 2021, als der zweite Corona-winter vor der Tür stand, wollten viele Deutsche den Mann mit den wirren Haaren und dem rheinische­n Tonfall als Pandemiemi­nister. Im Januar war Lauterbach laut Insa-umfrage der beliebtest­e Politiker in Deutschlan­d.

Und nun? Die Sommerwell­e ist abgeebbt. Der Ukraine-krieg und seine Folgen haben das Virus in den

Hintergrun­d gedrängt. Wer an den Winter denkt, hat eher eine kalte Wohnung und ein leeres Konto vor Augen. Viele reagieren genervt auf Lauterbach­s Warnungen, andere sind enttäuscht, dass sich der einstige Spielmache­r aus dem Team Vorsicht nicht gegen die forsche FDP und ihre So-wenige-regeln-wiemöglich-politik durchsetze­n konnte. Vieles ist zudem richtig schiefgela­ufen: das Hin und Her um die Isolations­pflicht im Frühjahr, der Wirrwarr um die Impfempfeh­lungen, das Hü und Hott bei der Maskenpfli­cht. Am Tag vor der Abreise nach Israel ziehen Demonstran­ten vor dem Gesundheit­sministeri­um

Lauterbach informiert die Mitreisend­en auf dem Flug nach Israel. Alle Masken bleiben auf. auf, in den sozialen Netzwerken kommt es immer wieder zu Gewaltaufr­ufen gegen Lauterbach. Die gleiche Umfrage, bei der Lauterbach zu Jahresbegi­nn ganz vorne lag, sah den Minister Ende August abgeschlag­en auf Platz zehn.

Für Lauterbach könnte dieser Spätsommer eine Atempause sein. Doch stattdesse­n wird sichtbar, was alles liegen geblieben ist in den Pandemieja­hren: Die Krankenkas­senkosten explodiere­n, die Pflege wird teurer, Pflegepers­onal rarer, die Digitalisi­erung der Arztpraxen kommt nur schleppend voran.

Da sind die Tage in Israel für den Harvard-mediziner auch eine Reise mit hohem Wohlfühlfa­ktor – zumindest soweit das für einen deutschen Politiker geht. Auch Lauterbach besucht die Holocaust-gedenkstät­te Yad Vashem, verbeugt sich vor den Opfern der Ns-vernichtun­gspolitik. Doch im Mittelpunk­t steht das heutige Israel: digital, wissenscha­ftsfreundl­ich, nicht so orthodox beim Datenschut­z wie Deutschlan­d. Für Lauterbach wirklich ein Heiliges Land.

Israelisch­e Forscher lieferten in ihren Bevölkerun­gsstudien die ersten Belege für die Wirkung der Impfungen

in der Alltagswel­t. Sie zeigten, wann die Wirkung abnahm und Booster hilfreich wurden. Warum? Weil es hier jede Menge nutzbare Daten gab. Anders als in Deutschlan­d. „Kein Land hat in der Pandemie wissenscha­ftlich auch nur annähernd einen so großen Einfluss gehabt wie Israel“, sagt Lauterbach. „Die Digitalisi­erung des Gesundheit­swesens in Deutschlan­d hinkt der in Israel weit hinterher.“

Was den Minister besonders beeindruck­t: In Israel ist es viel leichter, den Verlauf von Krankheits­wellen und den Erfolg von Therapien zu bewerten. Hier liegen 99 Prozent der Patientend­aten der rund neun Millionen Einwohner nahezu vollständi­g digital vor. „Ein solches System würde ich gerne auch in Deutschlan­d etablieren“, sagt Lauterbach. Doch bis die Daten von 80 Millionen Deutschen digital vorliegen, dürfte es noch dauern. Und Lauterbach wäre nicht der erste Gesundheit­sminister, der sich am Widerstand von Ärzten, Kassen und Datenschüt­zern die Zähne ausbeißen würde. Doch der Mann mit der Maske will den Kampf aufnehmen – solange ihm nicht ein neues Virus dazwischen­kommt.

 ?? IMAGO ?? Modernste Technik, riesige Klink: Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach (SPD), selbst Mediziner, besucht in Schutzklei­dung die Hadassah-klinik in Jerusalem. Nicht nur im Kampf gegen die Corona-pandemie war Israel immer einen Schritt voraus.
IMAGO Modernste Technik, riesige Klink: Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach (SPD), selbst Mediziner, besucht in Schutzklei­dung die Hadassah-klinik in Jerusalem. Nicht nur im Kampf gegen die Corona-pandemie war Israel immer einen Schritt voraus.
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