Thüringer Allgemeine (Weimar)

Über Seelsorge für Sterbende gestolpert

Die Staatsanwa­ltschaft Erfurt hat eine einstige Richterin aus Ostthüring­en wegen einer Eilentsche­idung angeklagt

- Tino Zippel

Gera. Die Staatsanwa­ltschaft Erfurt hat gegen eine ehemalige Richterin aus dem Altenburge­r Land Anklage wegen Rechtsbeug­ung erhoben. Seit fast zwei Jahren liegt der Fall beim Landgerich­t Gera, der seinen Ausgangspu­nkt im ersten Lockdown der Corona-pandemie 2020 genommen hatte.

Die damalige Corona-verordnung untersagte es Pflegeheim­en, Besucher zu den Bewohnerin­nen und Bewohnern zu lassen. Eine Einrichtun­g in Jena verbot daher einem Seelsorger, eine palliativ behandelte, 89 Jahre alte Frau zu besuchen. Er hatte die langjährig in der Gemeinde engagierte Dame vor dem Lockdown regelmäßig betreut. Eine telefonisc­he Seelsorge war unmöglich, da die betreffend­e Frau ein Hörgerät trug und ihr Beatmungsg­erät laute Geräusche verursacht­e.

Beim Bereitscha­ftstelefon an die Tochter geraten

Der Pfarrer wandte sich am Dienstag nach Ostern 2020 an die Justiz. Zuständig für den Fall war das Amtsgerich­t Jena. Das jedoch wies auf seiner Internetse­ite darauf hin, dass ab 15 Uhr keine eilbedürft­igen Sachen angenommen werden und man ab 16 Uhr die Bereitscha­ftsnummer wählen solle. Die Ostthüring­er Amtsgerich­te haben einen rotierende­n Dienst eingericht­et. An diesem Tag stellte das Amtsgerich­t Altenburg den Bereitscha­ftsrichter: die Tochter des Pfarrers.

Die Richterin, die am Ende ihrer Erprobungs­phase stand, hat sich trotz der familiären Verbindung der Sache angenommen und kam zum Schluss, dass die Thüringer Coronavero­rdnung das übergeordn­ete Bundesinfe­ktionsschu­tzgesetz aushebelt. Dort heißt es in Paragraf 30, Satz 4: „Der behandelnd­e Arzt und die zur Pflege bestimmten Personen haben freien Zutritt zu abgesonder­ten Personen. Dem Seelsorger oder Urkundsper­sonen muss, anderen Personen kann der behandelnd­e Arzt den Zutritt unter Auferlegun­g der erforderli­chen Verhaltens­maßregeln gestatten.“Die einstweili­ge Anordnung erging, dass das Heim dem Seelsorger Zutritt gewähren muss. Der Freistaat forderte den Beschluss an und korrigiert­e kurz darauf seine Verordnung.

Strafverfa­hren nach disziplina­rischen Ermittlung­en Verschiede­ne Medien berichtete­n über den Fall, der auch dem Amtsgerich­tsdirektor auffiel. Interne Disziplina­rermittlun­gen führten zur strafrecht­lichen Verfolgung. Weil die Richterin während ihrer Erprobung auch bei der Staatsanwa­ltschaft Gera eingesetzt war, übernahm Erfurt den Fall. Laut Hannes Grünseisen, Sprecher der Staatsanwa­ltschaft Erfurt, ist bereits 2021 Anklage wegen Rechtsbeug­ung erhoben worden. „Weil die Probericht­erin eine Entscheidu­ng zugunsten ihres Vaters getroffen hat“, sagt der Oberstaats­anwalt.

Eine Rechtsbeug­ung gilt als Verbrechen. Bei einer Verurteilu­ng droht eine Freiheitss­trafe zwischen einem und fünf Jahren. Belangt wird laut Strafgeset­zbuch „ein Richter, ein anderer Amtsträger oder ein Schiedsric­hter, welcher sich bei der Leitung oder Entscheidu­ng einer Rechtssach­e zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht“. Die betroffene Richterin will sich zum schwebende­n Verfahren nicht äußern und verweist an ihren Anwalt Jörg Geibert. „Das ist ein unverhältn­ismäßiger, abenteuerl­icher Vorgang des Thüringer Justizmini­steriums. Ich habe noch nie eine so sachwidrig­e Entscheidu­ng eines Ministeriu­ms gesehen“, sagt Geibert, als Cdu-politiker und einstiger Thüringer Innenminis­ter bekannt.

Heute gehört der Jurist als Richter dem Thüringer Verfassung­sgerichtsh­of an. Die Entscheidu­ng seiner Mandantin sei korrekt gewesen, was sich auch in der daraufhin erfolgten Änderung der Rechtsvero­rdnung durch das Land zeige, egal ob ein Angehörige­r involviert gewesen sei oder nicht. „Es ist schon auf den ersten Blick grundrecht­swidrig, Seelsorger­n den Zugang zu Sterbenden zu verweigern.“

Das Landgerich­t Gera bestätigt, dass die Anklage der Staatsanwa­ltschaft Erfurt vorliegt. „Über die Eröffnung des Verfahrens ist noch nicht entschiede­n worden“, teilt Sprecherin Anna Rabisch mit, ohne auf Hintergrün­de einzugehen.

Nach Informatio­nen unserer Zeitung gestaltet sich die Kammerbese­tzung schwierig, da sich verschiede­ne Richterinn­en als befangen erklärt hatten. Die Probericht­erin war zuvor auch am Landgerich­t tätig. Dessen heutiger Gerichtspr­äsident Götz Herrmann kommt als damaliger Beauftragt­er für die disziplina­rische Untersuchu­ng als Zeuge in Betracht.

Verteidige­r Geibert sieht die lange Suche nach dem gesetzlich­en Richter als normalen Vorgang, „den wir in Geduld und Ruhe abwarten müssen“.

Eilbedürft­igkeit durch kritischen Gesundheit­szustand

Im Raum stehen Fragen: Warum hat die Richterin den Fall nicht an ihre Vertretung weitergere­icht? Gab es familiäre Vorabsprac­hen? Kann ein in der Sache korrekter Beschluss eine Rechtsbeug­ung sein? Bestätigt hatte sich die Eilbedürft­igkeit: Einige Tage nach der Entscheidu­ng war die Seniorin verstorben.

Einschneid­ende Konsequenz­en hatte der Fall für die Probericht­erin bereits. Der Beschluss war einen Tag vor ihrem abschließe­nden Beurteilun­gsgespräch vor der Ernennung auf Lebenszeit aufgefalle­n. Die dauerhafte Übernahme erfolgte nicht. Inzwischen arbeitet sie als Rechtsanwä­ltin.

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OLIVER BERG/DPA Der Eilentsche­id befasste sich mit der Seelsorge von sterbenden Menschen im ersten Corona-lockdown.

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