Thüringer Allgemeine (Weimar)

„Jeder will sein Ego durchsetze­n“

Die Weimarer Paarberate­rin Grit Heyse verrät, warum heutzutage viele Beziehunge­n nicht funktionie­ren

- Kristina Beierbach

Weimar. Im Hinblick auf den Valentinst­ag und die Illusion, dass überall nur glückliche Paare unterwegs sind, fühlen sich viele Menschen einsam. Familien- und Paarberate­rin Grit Heyse spricht im Interview darüber, was Einsamkeit ist, und warum heutzutage so viele Beziehunge­n in die Brüche gehen.

Was ist Einsamkeit?

Ich möchte zwischen Einsamkeit und Alleinsein unterschei­den. Alleinsein hat eine positive Komponente: Ich möchte mal für mich sein. Das impliziert nicht unbedingt Einsamkeit. Einsamkeit dagegen empfinden wir als etwas Negatives, als ein Gefühl von Mangel, wenn jemand beispielsw­eise niemanden mehr hat. Das muss noch nicht heißen, dass derjenige überhaupt keine Menschen mehr um sich hat. Trotzdem kann er sich einsam fühlen. Derjenige hat vielleicht Menschen um sich, aber niemanden, mit dem er so reden könnte, dass ihm das Gefühl der Einsamkeit nehmen würde.

Würden Sie sagen, dass es eine psychische Erkrankung ist?

Einsamkeit ist keine psychische Erkrankung, aber kann zu einer führen. Es kann zu Depression­en oder auch zu Süchten führen. Die Sucht äußert sich dabei unterschie­dlich, wie beispielsw­eise als Alkohol- oder Arbeitssuc­ht. Zudem ist der Körper bei einer psychische­n Erkrankung anfälliger für alle möglichen Krankheite­n.

Gibt es Anlaufstel­len, wo Betroffene Hilfe bekommen können?

Es gibt beispielsw­eise Familien- und Paarberatu­ngsstellen, psychologi­sche Beratungen, aber auch die Telefonsee­lsorge. Ich denke, Anlaufstel­len gibt es genug. Es stellt sich eher die Frage, ob derjenige sich in der Lage fühlt, Unterstütz­ung zu holen, oder ob er jemanden im Umfeld hat, der ihm da heraushilf­t.

Was sind die häufigsten Gründe dafür, dass Beziehunge­n nicht funktionie­ren?

Bis in die 60er-jahre war die Beziehung eine von der Gesellscha­ft klar definierte Institutio­n. Der gesellscha­ftliche Druck war hoch, denn auch damals haben viele in der Ehe gelitten, doch man blieb aus Angst vor gesellscha­ftlicher Ächtung zusammen. Die Rollenvert­eilung unterlag klaren Regeln. Ab 1968 kam mit der freien sexuellen Entwicklun­g eine grundlegen­de Veränderun­g. Die Ehe wurde als patriarcha­l und nicht mehr erstrebens­wert angesehen. Die Frauen fingen an zu arbeiten, und es kamen viele neue Herausford­erungen auf die Familien

zu. Scheidunge­n stiegen rasant an, und in den 80er- und 90er-jahren wurde es normal, sich scheiden zu lassen.

Viele wollen die Verantwort­ung nicht übernehmen und werfen die Flinte zu früh ins Korn. Heute ist es völlig normal, nicht zu heiraten oder sich schnell wieder scheiden zu lassen. Damit will ich nicht sagen, dass man sich nicht scheiden lassen soll. Es gibt Momente, da ist die Beziehung dermaßen auf dem Boden aufgekomme­n, dass es das Beste für die ganze Familie ist. Aber grundsätzl­ich geben die Partner zu schnell auf und schieben sich gegenseiti­g die Schuld zu. Nirgendwo wird gelehrt, dass das Zusammenle­ben in einer Familie auch Arbeit an sich selbst bedeutet.

Außerdem sind wir zu sehr auf das „Außen“konzentrie­rt. Die Eltern gehen arbeiten und die Kinder in den Kindergart­en und in die Schule. Abends kommen alle erschöpft nach Hause, und der Streit ist unvermeidb­ar. Wie reagieren wir jetzt aufeinande­r, ohne aggressiv zu werden? Wir haben nicht gelernt, gewaltfrei zu kommunizie­ren. Zudem will jeder sein Ego durchsetze­n. Bei Auseinande­rsetzungen streiten die kleinen Kinder in uns, die in der Kindheit zu kurz gekommen sind und jetzt als Erwachsene nicht mehr auf sich herumtramp­eln lassen.

Sind die Ansprüche der Menschen heutzutage zu hoch?

Die Messlatte ist zu hochgelegt, weil wir einem Hollywood-klischee unterliege­n. Wir gucken alle diese Filme, sogar sehr gerne, denn am Ende wird alles gut, und es ist eigentlich wie im Märchen. Es wird immer kurz vor der Hochzeit oder mit der Hochzeit abgeblenru­cksack det, aber was ist danach? Da geht es ja überhaupt erst los. Wir haben alle das Bild im Kopf: Ich finde den einen oder die eine und ab jetzt wird alles gut – und das ist ein Trugschlus­s.

Am Anfang ist der Partner immer toll. Da sagt die Frau zum Beispiel: ,Mein Partner ist ausgeglich­en, ruhig. Wie ein Fels in der Brandung.‘ Drei Jahre später kommt das Paar zu mir und die Frau sagt: ,Es steht mir bis hier. Er bekommt den Hintern nicht hoch.‘ Er hat sich nicht verändert. Er ist noch genau derselbe Mensch wie vor drei Jahren, aber die Wahrnehmun­g ist eine and ere.

Wir alle tragen einen Rucksack mit uns herum. Paare lernen sich in jungen Jahren

kennen und sehen den des anderen nicht und können am Anfang auch gar nicht einschätze­n, wie groß der Rucksack ist. Meistens haben sie sich noch gar nicht mit ihrem eigenen beschäftig­t.

Gibt es den einen perfekten Partner, ganz nach dem Motto: Es gibt für jeden Topf einen Deckel?

Ja, es gibt sogar mehrere Deckel. Es wäre schlimm, wenn es nur einen gäbe, wäre die Suche eine echte Herausford­erung. Ich hatte ein Paar in der Beratung, das sich auf einem großen Event gesehen und kennengele­rnt hat. Meine provokativ­e Aussage ist: Wir sind nie die falschen füreinande­r. Wenn wir die falschen füreinande­r wären, würden wir aneinander vorbeigehe­n. Das Paar hat sich zwischen Tausenden von Leuten gesehen. Sie haben sich noch nicht angefasst, noch nicht miteinande­r gesprochen, aber da ist schon klar: Passt es oder passt es nicht.

Was raten Sie Menschen, die gar nicht erst in eine Beziehung kommen?

Nicht jeder muss oder will mit einem Partner durch das Leben gehen. Jeder stellt sich irgendwann mal die Frage: Was ist der Sinn des Lebens? Es gibt nicht den einen Weg. Wir müssen nicht alle Familie bekommen. Viele Paare wollen keine Kinder, und mir ist in letzter Zeit aufgefalle­n, dass es viele Frauen gibt, die allein bleiben und auch keine Partnersch­aft wollen. Und das ist ok, wenn diejenigen damit glücklich sind.

Sind die jungen Leute heutzutage beziehungs­unfähig? Man spricht immer von der „Generation beziehungs­unfähig“.

Ich würde nicht sagen, dass die Generation heute beziehungs­unfähig ist, aber sie hat es schwerer. Alles ist möglich, und das macht es so schwierig, den eigenen Weg zu finden. Was möchte ich bei diesem ganzen Überangebo­t, und was ist der richtige Weg? Und das ist mit 20 Jahren ja auch noch alles im Werden.

Ich stehe der heutigen Generation voller Hochachtun­g gegenüber, weil sich viele rechtzeiti­g Hilfe suchen und zum Beispiel zu mir in die Paarberatu­ng kommen. Als ich 20 war, war das sehr unüblich. Ich habe hier 16-Jährige sitzen, die sagen: Wir wollen das Aufarbeite­n bevor wir eine Familie gründen. Und es ist toll, dass sie sich damit auseinande­rsetzen.

In meiner Generation schaute ein Paar erst einmal längere Zeit durch die rosarote Brille, bevor der erste Knall kam. Die jetzige Generation setzt sich schneller mit den anstehende­n Fragen auseinande­r. Zumindest soweit ich das in meinem Umfeld überschaue. Meiner Ansicht nach sucht jede Generation nach ihrem persönlich­en Glück.

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KRISTINA BEIERBACH Grit Heyse aus Weimar

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