Wie gefährlich wird Julia Nawalnaja für Putin?
Die Witwe von Alexej Nawalny wollte nie in die Politik – und wird nun große Widersacherin des Kreml-chefs. Wer ist diese Frau?
Es war wohl kein Zufall, dass sich Julia Nawalnaja unmittelbar nach ihrer emotionalen Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit Swetlana Tichanowskaja traf, der belarussischen Oppositionsführerin im Exil. Beide Frauen eint eines: Sie wollten niemals in die Politik. Und fanden sich in Führungsrollen wieder. Tichanowskajas Mann, der Blogger Sergej Tichanowski, sitzt für viele Jahre im Straflager. Seine Frau übernahm. Nun hat Julia Nawalnaja die Nachfolge ihres verstorbenen Mannes Alexej Nawalny angetreten. Ihr Mann sei „ein Held gewesen und als Held gestorben“, sagte sie am Montag bei einem Treffen mit den Außenministern der 27 Eu-staaten in Brüssel.
Geboren 1976 in Moskau, studierte Julia Nawalnaja Wirtschaftswissenschaften. 1998, während eines Türkei-urlaubs, lernte sie Alexej Nawalny kennen. Zwei Jahre später heirateten sie. 2001 kam Tochter Darja auf die Welt, 2008 ihr Sohn Sachar. Julia Nawalnaja gab ihr Berufsleben auf, konzentrierte sich auf die Familie. Im Hintergrund unterstützte Julia Nawalnaja ihren Mann, es drängte sie in all den Jahren aber nicht ins Licht der Öffentlichkeit.
Das änderte sich 2020 mit dem Giftanschlag auf Alexej Nawalny. Ihr Mann lag in einer Klinik im sibirischen Omsk im Koma. Julia sprach mit Journalisten, verfasste einen offenen Brief an Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Und sorgte dafür, dass Nawalny nach
Deutschland ausgeflogen werden konnte. In einem Interview sagte sie: „Mein Mantra war immer: Gib nicht auf. Das ist die wichtigste Lektion 2020. Kein Selbstmitleid, sondern tun, was getan werden muss.“
Nun also übernimmt Julia Nawalnaja. Sie sagt, Wladimir Putin habe ihr den liebsten und wertvollsten Menschen genommen, die Hälfte ihrer Seele und ihres Herzens. Mit der anderen Hälfte wolle sie nun wie ihr Mann gegen Ungerechtigkeit und Korruption kämpfen. Angst habe sie nicht. „Ich werde die Sache von Alexej Nawalny fortsetzen, kämpfen um unser Land. Ich rufe euch auf, an meiner Seite zu stehen“, verkündete Julia Nawalnaja in einer emotionalen Videobotschaft.
Nawalnajas Anschuldigung, Putin sei der Mörder ihres Mannes, weist der Kreml zurück. Kremlsprecher Dmitri Peskow nannte die Vorwürfe „unbegründet und unverschämt“. Weder er noch Putin hätten sich die Videobotschaft angeschaut. Vor dem Hintergrund, dass „Julia Nawalnaja gerade verwitwet ist“, wolle er sich mit Kommentaren zurückhalten. Zugleich verteidigte der Kremlsprecher das brutale Vorgehen von Sicherheitskräften gegen Russen, die in vielen Städten des Landes zum Andenken an den gestorbenen Putin-gegner Blumen niederlegten und Kerzen anzündeten. Die Uniformierten hätten ihre Aufgabe im Einklang mit den Gesetzen erfüllt, meinte Peskow.
Kurzzeitig bekam der Kreml unerwartete Schützenhilfe von der Plattform X. Diese sperrte am
Dienstagnachmittag für fast eine Stunde das erst einen Tag alte Profil von Julia Nawalnaja. Die Begründung: ein Verstoß gegen die Regeln des sozialen Netzwerks. Erst nach Protest von Nawalnys Team wurde das Profil freigegeben.
Julia Nawalnaja wird wohl die neue Galionsfigur der russischen Opposition im Exil werden. Unterstützt von ihrer 23-jährigen Tochter Darja. Bereits in der Vergangenheit trat Darja immer wieder öffentlich auf, nahm stellvertretend für ihren inhaftierten Vater internationale Auszeichnungen entgegen. So auch 2021 den Sacharow-preis für geistige Freiheit des Europäischen Parlaments. In ihrer Rede sagte Darja: „Als ich meinem Vater schrieb und ihn fragte ‚Was genau soll ich in der Rede aus deiner Sicht sagen?‘, antwortete er ‚Sag, dass niemand es wagen kann, Russland mit dem Regime von Putin gleichzusetzen. Russland ist ein Teil von Europa. (…) Wir streben nach einem Europa der Ideen, das die Menschenrechte, die Demokratie und die Integrität feiert‘.“
Mutter und Tochter werden es nicht leicht haben. Für die russische Opposition seien die beiden allerdings eine Chance, meint die bekannte russische Frauenrechtlerin Aljona Popowa. „Es gibt nichts Stärkeres in der Welt als Mutter und Tochter, die wegen des Todes von Mann und Vater gegen das System kämpfen“, schreibt sie auf Instagram. Aber wird Julia Nawalnaja erfolgreich sein? Der Politologe Abbas Galljamow meint: Ja. Für den Kreml würde es schwierig sein, sie zu diskreditieren, ihr eigennützige Motive zu unterstellen. „Bei der überwiegenden Mehrheit der Politiker besteht der Verdacht, dass sich ihre wahre Motivation von der erklärten unterscheidet“, sagt Galljamow. „Julia Nawalnaja wird dieses Problem nicht haben. Ihre Motivation ist sehr einfach und verständlich, sie ist absolut sozial unterstützend. Julia hob einfach ein Banner auf, das aus den Händen ihres ermordeten Mannes fiel. Sie hatte eigentlich keine Wahl.“
Es gebe für Julia Nawalnaja viele Fallen, meint hingegen die Politologin Tatjana Stanowaja. Die Witwe müsse dafür aus dem Schatten ihres Mannes treten und ein eigenes Profil als selbstständige politische Figur mit einem Team herausbilden. Zudem sei „Prowestlichkeit“gerade jetzt im Land toxisch, sie gelte für viele Russen als Verrat und Arbeit für den Feind. „Das alles heißt nicht, dass sie nichts zustande bringen wird“, so Stanowaja. Aber alles sei abhängig von ihren Inhalten und ihrem Stil. „Die Zeit wird das zeigen.“