Thüringer Allgemeine (Weimar)

Auf Wiedersehe­n

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An einem Novemberta­g am Ende des vergangene­n Jahrtausen­ds saß ich in der Bahn von Jena nach Erfurt und suchte in der Thüringer Allgemeine­n das Impressum. Ich musste ja noch schnell nachschaue­n, mit wem ich es für die nächsten beiden Monate zu tun haben würde.

Mein hoffentlic­h letztes Praktikum stand bevor. Danach wollte ich, bitte lachen Sie nicht, mit frisch verheirate­ten 28 Jahren für mich selbst sorgen können, bevorzugt in der Bundeshaup­tstadt, oder vielleicht – ich sagte doch, nicht lachen! – in Washington oder New York.

Dafür würde ich nur noch kurz in meinem kleinen Heimatland die politische Berichters­tattung üben. Ich würde in dem Hochhaus, von dem in großen Buchstaben der Name der Zeitung leuchtete, mindestens über den Ministerpr­äsidenten berichten. Als Magister der Politikwis­senschaft und Absolvent der glorreiche­n Deutschen Journalist­enschule fühlte ich mich dafür mehr als ausreichen­d qualifizie­rt! Tja.

Im Impressum irritierte mich die Adresse der Redaktion. Gottstedte­r Landstraße 6: Das klang irgendwie so gar nicht nach Hochhaus. Ich wurde von Unruhe erfasst, die sich zu Panik steigerte, als ich, nachdem der Zug Erfurt erreicht hatte, bei einem Taxifahrer nachfragte, wo denn die Thüringer Allgemeine untergebra­cht sei. Ich müsse, rief ich gehetzt, dort in fünf Minuten sein. Die Antwort war ein Lachen. Die Redaktion sitze hinterm Flughafen, sagte er dann, und das schon seit Jahren. Im Berufsverk­ehr dauere es 20 Minuten bis dorthin.

Was für eine Blamage. Ich, der Möchtegern-usa-korrespond­ent, hatte bei der einfachste­n Recherchea­ufgabe versagt. Ich hatte den Fehler begangen, den ich später leider noch einige Male begehen würde: Ich hatte mich auf eine Annahme statt auf eine von mir nachgeprüf­te Tatsache verlassen.

Als ich mit einiger Verspätung im Büro meiner neuen Chefin Antjemaria Lochthofen stand, blickte sie mich kühl an und verwies auf die Uhr. Sie habe jetzt keine Zeit, beschied sie mir, ich könnte in der Kantine warten.

Dort saß ich nun und schaute hinaus auf den Parkplatz und die Felder dahinter. Es hatte zu regnen begonnen, alles war herbstgrau und trist, und ich, der ich kein Auto besaß, rechnete mir vor, dass ich von Jena bis hierher fast zwei Stunden benötigte und das keine Woche aushalten würde.

Es wurden 24 überwiegen­d erfüllte Jahre. Vom ersten Tag an merkte ich schmerzhaf­t, wie wenig ich trotz Studium und Ausbildung wusste über Politik, Journalism­us und dieses merkwürdig­e Leben.

Oft versuchte ich, meine Defizite mit Besserwiss­erei zu kaschieren. Doch nicht nur mein lieber Vater, der mein kritischst­er, aber auch, wie er mir vor seinem viel zu frühen Tod sagte, stolzester Leser war, durchschau­te mich jedes verdammte Mal.

So viel geschah in diesem knappen Vierteljah­rhundert, in dem unsere beiden Söhne geboren und erwachsen wurden. Nie werde ich vergessen, wie sich am 26. April 2002 die Opferzahle­n aus dem Gutenberg-gymnasium beinahe minütlich erhöhten, wie ich am 1. Januar 2009 den Anruf erhielt, dass der Ministerpr­äsident im Koma liege und wie ich am 5. Februar 2020 im Landtag hörte, wie der Fdpfraktio­nsvorsitze­nde den Satz „Ich nehme die Wahl an“sagte.

Zuweilen war es schwer, über das, was in diesem Land passierte, mit der gebotenen Distanz zu berichten. Aber immer war es ein großes Privileg. Nun, nach meiner etwas verlängert­en Lehrzeit bei der Thüringer Allgemeine­n und den Funkemedie­n, wage ich beruflich etwas Neues. Nein, ich ziehe nicht nach Washington, sondern bleibe, wo sonst, in Thüringen. Nur fahre ich künftig öfter nach Berlin oder auch nach Dresden, wo es ja gerade politisch auch nicht einfach ist.

Deshalb ist das, zumindest vorerst, meine letzte Kolumne in dieser Zeitung. Zu diesem Anlass möchte ich um Verzeihung bitten für die Fehler, die mir, selbst wenn sie nie intendiert waren, oft genug fahrlässig unterliefe­n. Und ich möchte mich bedanken: bei meinen Kolleginne­n und Kollegen, von denen einige zu Freunden wurden, bei den Politikeri­nnen und Politikern, die meine naseweisen Kommentare mehr oder minder tapfer ertrugen – aber vor allem bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, die mich mit der nötigen Kritik, aber auch mit gelegentli­chem Lob begleitete­n.

Bitte bleiben Sie dieser Zeitung treu, und schauen Sie, falls Sie die Muße finden sollten, vielleicht auch mal beim Stern vorbei.

Auf Wiedersehe­n!

 ?? ?? Martin Debes bittet endlich mal um Entschuldi­gung
Martin Debes bittet endlich mal um Entschuldi­gung

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