Musikhochschulen: Initiative prangert Machtmissbrauch an
Weimarer Aktion sammelt mehr als 600 Berichte von Grenzüberschreitungen, teils justiziabel. Sie nimmt Einrichtungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz in die Pflicht
Victoria Augener
Weimar. „Du spielst erbärmlich“– Wer das Musizieren perfektionieren will, muss sich Kritik gefallen lassen. Aber ist das noch Kritik oder schon Machtmissbrauch? Gar psychische Gewalt?
Dieser Frage muss sich das Lehrpersonal der Hochschule für Musik „Franz Liszt“Weimar (HFM) stellen. Eine Initiative von Studierenden nimmt Musikhochschulen im deutschsprachigen Raum ins Visier. Machtmissbrauch sei in der musikalischen Ausbildung ein dringliches Problem, das durch Strukturen begünstigt und von Verantwortlichen ausgeblendet werde. Wie hoch der Leidensdruck für viele Studierende ist, verdeutlichen mehr als 600 Erfahrungsberichte von Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Teils ist von schwer justiziablen Vorfällen die Rede.
Verpflichtende Weiterbildung wird gefordert
Ihren Ursprung hat die Initiative gegen Machtmissbrauch an der Musikhochschule in Weimar. Alles begann mit einem Umfragelink, der an Studierende verschickt wurde. Sie sollten negative Erfahrungen an ihren Hochschulen schildern. 161 Studierende meldeten sich und teilten mitunter mehrere Erlebnisse. Wissenschaftlichem Anspruch genüge die Umfrage nicht, geben die Gründerinnen der Initiative zu. Doch es solle ein erster Schritt sein, die Probleme zu benennen, die es schon lange im Musikhochschulumfeld gebe.
Die Initiative hat einen langen Forderungskatalog aufgestellt. Sie wolle unter anderem verpflichtende Weiterbildungen für das Lehrpersonal. Lehrkräfte müssten bereits bei ihrer Einstellung zu Machtgefällen und -missbrauch sensibilisiert werden. Außerdem solle die Hochschule aktiv auf ihre Studierenden zugehen und über Machtmissbrauch aufklären. Vor allem ausländische Studierende müssten besser über ihre Rechte informiert werden.
Wollen Studierende die Lehrkraft wechseln, weil sie sich nicht wohlfühlen, dürfe das keine negativen Folgen auf das Studium haben, so die Forderung der Initiative. Denn oft liegt das Problem im Einzelunterricht. Musikstudierende lernen nicht in großen Hörsälen, sondern meist allein mit der Lehrkraft. Das lässt viel Raum für Irritationen.
Anne-kathrin Lindig, Präsidentin der Weimarer Musikhochschule, gibt zu: „Es kann zu Situationen im Unterricht kommen, in denen sich Studierende und Lehrende miteinander nicht wohlfühlen.“Die Lehre im Einzelunterricht setze ein hohes Maß an Sensibilität voraus. Lehrende müssen motivieren und kritisieren, um die beste Leistung aus ihren Schülern zu holen. Das dürfe jedoch keinesfalls missbräuchlich ausgenutzt werden, so Lindig. An eine besondere Problemlage an der HFM glaubt sie allerdings nicht.
Die Musikhochschulpräsidentin listet Ansprechpartner auf, an die sich Betroffene bereits jetzt wenden können. Zudem sei die Hochschulleitung im Dialog mit der AG Awareness (englisch für Bewusstsein oder Achtsamkeit), die sich neu gegründet hat und die Forderungen der Initiative weitgehend übernimmt. Die unabhängige Arbeitsgruppe
von Studierenden richtet unter anderem einen anonymen digitalen Briefkasten ein, an den sich Studierende in problematischen Situationen wenden können.
Anonymität ist der Knackpunkt. Denn wer Grenzüberschreitungen oder Missbrauch kritisiert, wird oft erneut zum Opfer. Die Hochschulmusikwelt ist klein, fast jeder kennt jeden. Vorwürfe fallen oft auf diejenigen zurück, die Vorfälle öffentlich machen, denn Talenten verzeihe man vieles.
Große „Selber-schuld-kultur“an der HFM
Das schildert eine Studentin der Weimarer Musikhochschule. Nicht mit einer Lehrkraft, sondern mit einem Mitstudenten hat sie schlechte Erfahrungen gemacht. Es geht um unvermittelte Annäherungen und unkollegiales Verhalten in gemeinsamen Projekten. Ist das schon Machtmissbrauch?
Die Studentin zumindest glaubt, dass ihre Kritik an der HFM verhallt wäre. Deswegen wendete sie sich an das Awareness-team der Hamburger Musikhochschule, wo man solche Probleme deutlich ernster nehme. In Weimar hingegen gebe es eine große „Selber-schuld-kultur“, denn jeder wisse, in der Musikerkarriere komme es auf Kontakte und gute Beziehungen an. Es fehlten die Strukturen, um vertrauensvoll über Grenzüberschreitungen sprechen zu können.
Die Weimarer Musikhochschule überarbeitet derweil ihre Antidiskriminierungsrichtlinien. Darin würden Beschwerdewege festgelegt, auf die sich alle Mitglieder und Angehörige der Hochschule verlassen könnten, betont Hochschulpräsidentin Lindig. Studierendenrat und die Initiative warten noch auf eine Reaktion der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen, die sich voraussichtlich erst im Mai zu den Vorwürfen äußern will.
Hilfe für Betroffene und weitere Infos gibt es unter www.hfm-weimar.de/ awareness