Universität Erfurt untersucht mündliche Geschichtsweitergabe
Oral History mit eigenem Forschungs- und Lehrbereich. Erinnerungen an die DDR werden aufgezeichnet und bewahrt
Erfurt. Gemacht haben es schon die Gebrüder Grimm. Ab 1807 begannen sie damit, Geschichten aus mündlichen Überlieferungen aufzuzeichnen. 1812 erschienen ihre ersten „Kinder- und Hausmärchen“. Für die in Paris geborene und inzwischen an der Erfurter Universität tätige Historikerin Agnés Arp ist es bereits eine frühe Form von Oral History (OH).
Mündliche Geschichtsüberlieferung und Zeitzeugenbefragungen gebe es, seit sich Menschen für Geschichte interessierten, sagt die Leiterin der noch jungen Oral-historyforschungsstelle an der Universität Erfurt. Konkret geht es um „ostdeutsche Erfahrungen“. Am Beispiel der Spezifika der DDR sowie der Zeit der Transformation wollen Arp und ihr Team die Methodik mündlicher Überlieferungen sowie ihren Wert für die Wissenschaft neu bestimmen.
Mauerfall als Startschuss für viele Projekte
Von einer Art Wiederbelebung der Oral History will die Forscherin aber nicht sprechen. Das klinge so, als wäre sie mal gestorben, was nicht der Fall sei. Arp verweist auf die International Oral History Association (IOHA), in der sich Soziologen, Historiker, Philosophen oder Sprachwissenschaftler aus vielen Ländern seit einigen Jahrzehnten grenzüberschreitend austauschten.
Hoch-zeiten für erfragte Geschichte in Deutschland seien etwa die 1960er gewesen, als die sogenannten 68er ihren Eltern und Großeltern zu deren Ns-verstrickungen auf den Zahn fühlten, oder die 1990er, als in der ehemaligen DDR Erinnerungen Konjunktur
hatten. Überhaupt sei der Zerfall des Ostblocks Startschuss für viele Oral-history-projekte gewesen. Als besonders spektakulär galt eine 1987 in der DDR durchgeführte Befragungsaktion
durch den Historiker Lutz Niethammer, selbst eine Zeit lang Ioha-vorsitzender und späterer Lehrstuhlinhaber für Geschichte in Jena. Das Ziel einer gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte vor Augen, hatte sich der Westdeutsche Niethammer seinerzeit per Staatsratseingabe die Genehmigung eingeholt, in der DDR Zeitzeugen der Kriegs- und Nachkriegszeit zu befragen. Als die Ergebnisse 1991 im Buch „Die volkseigene Erfahrung“(Rowohlt Berlin) erschienen, war die DDR bereits Geschichte. 2006 hat Arp in Paris und Jena ihre Promotion über die Lebensgeschichten von Privatunternehmern in der DDR bei Lutz Niethammer abgeschlossen.
Quellen unterschiedlichster Zeiten sollen archiviert werden
Ungeachtet solcher Leuchttürme müsse die Oral History immer wieder darum kämpfen, ernst genommen zu werden, sagt Arp. Das liege nicht selten an mangelnder Professionalität. Oft werde wild drauf losgefragt, eine verbindliche und damit auch lehrbare Methodik stecke noch in den Anfängen.
Oral History bedeute nicht, Menschen einfach erzählen zu lassen, sondern fordere gesteuertes und qualitatives Fragen. Dafür brauche es viele Geschichten, viele Interviews, die schließlich mit anderen Quellen kontrastiert werden müssten. Historiker sollten immer auf einen Mix von Quellen zurückgreifen, so die Erfurter Forscherin. Für ein lebensgeschichtliches Interview seien vom Vorgespräch über Transkription, Verschlagwortung und Konstrastierung bis zur Endauswertung schon mal vier bis fünf Monate zu veranschlagen.
„Oral History erzeugt viel Material und kostet viel Zeit, die so leider nicht durch die Standard-forschungsförderung gefördert wird“, sagt Arp. Auch die Anschubfinanzierung durch das Land in den vergangenen drei Jahren hätte demnach gern noch einmal so lang sein können. Ausbremsen lassen will sich die neue Forschungsstelle von solchen Hürden aber nicht. Erschienen ist bereits das Buch „Die DDR nach der DDR“(Psychosozial-verlag), in dem Arp sowie ihre französische Landsfrau und Kollegin Élisa Goudin-steinmann mittels ostdeutscher Lebenserzählungen der Frage nachgehen, wie die DDR als Gesellschaft im Leben der Ostdeutschen bis heute nachwirkt. Gemeinsam mit wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Partnerinstitutionen in Thüringen führt die Forschungsstelle lebensgeschichtliche Interviewprojekte, Tagungen und Erzählcafés durch.
Eine besondere Rolle in der Arbeit spielen die Erfahrungen von Migranten, ehemaligen Vertragsarbeitern oder von Menschen mit Behinderung. Gerade erst veranstaltete man ein weiteres Oh-netzwerktreffen, Themen diesmal das richtige Maß an Nähe und Distanz in Interviews sowie der Umgang mit völlig fremden Lebenswelten oder kaum aushaltbaren Erzählungen etwa über Gewalterfahrungen.
Paula Mund aus Erfurt schilderte Erfahrungen bei Interviews mit gehörlosen Zeitzeugen. Alexander Weidle vom Leipziger Leibnitz-institut für jüdische Geschichte und Kultur Simon Dubnow war bei Bukowinadeutschen. Neben der Entwicklung und Weitergabe von Lehrmethoden zur Oral History setzt Agnés Arp auf ein großes Archiv, das Oh-quellen unterschiedlichster Zeiten und Herkunft für künftige Generationen erschließt und handhabbar macht.
Letztlich gehe es immer auch darum weiterzugeben, was sonst vergessen oder verschwiegen würde.