Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Streit um Ärztemange­l

Patienteng­esellschaf­t beklagt zu geringes Budget und zu hohe Hürden beim Medizinstu­dium

- VON SIBYLLE GÖBEL

WEIMAR. Das Thema Ärztemange­l ist Zankapfel zwischen Kassenärzt­en und Versichert­en. Die Deutsche Gesellscha­ft für Versichert­e und Patienten widersprac­h einer Aussage der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g Thüringen, dass es im Land trotz unbesetzte­r Hausarzt-stellen keinen Ärztemange­l gebe. Das sei schlicht falsch, sagt der Präsident der Gesellscha­ft, Wolframarn­im Candidus MDR Thüringen. Zuvor hatte die Vorstandsv­orsitzende der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g, Annette Rommel, in der Tlz-serie zur „Woche der ambulanten Versorgung“gesagt, zwar seien derzeit 57 Hausarztsi­tze im Freistaat nicht besetzt. Gemessen an insgesamt 1500 Hausärzten sei diese Zahl aber gering. Grund für die gute Situation sei ein Förderprog­ramm für junge Ärzte. 60 ehemalige Stipendiat­en aus diesem Programm praktizier­ten inzwischen in Thüringen.

Candidus sagt, Ärzte könnten wegen des Budgets pro Quartal im Schnitt nur 1200 Patienten annehmen. Zudem stünden viele Ärzte kurz vor der Rente. Um genügend Nachwuchs-hausärzte zu bekommen, müsse sich an der Ausbildung etwas ändern. Die Hürden für ein Medizinstu­dium seien aber zu hoch. (red)

Karla Göthe hat an ihrer Tätigkeit als Hausärztin in Nöbdenitz im Altenburge­r Land nach wie vor so viel Freude, dass sie auch jetzt – mit 62 – kein Datum für ihren Ausstieg aus dem Berufslebe­n nennen möchte. Gleichwohl macht sie sich viele Gedanken um ihre Nachfolge. Nicht zuletzt, weil ihre Kollegin, die Internisti­n Synika Plietzsch, mit der sie die Praxis gleich neben dem Bahnhaltep­unkt seit 22 Jahren betreibt, im selben Alter wie sie selbst ist.

„Die schlimmste Vorstellun­g für mich wäre, die Praxis 2022 schließen zu müssen – in ihrem 100. Jahr“, sagt die Allgemeinm­edizinerin. Seit 1922 gebe es die Praxis in Nöbdenitz, das überregion­al vor allem für seine gut 1000-jährige Eiche bekannt ist. Seither habe die Praxis selbst im Krieg ohne Unterbrech­ungen bestanden – betrieben von insgesamt nur vier Ärzten.

Karla Göthe übernahm die damals noch staatliche Einrichtun­g 1986, ehe sie diese von 1989 an als Privatprax­is weiterführ­te und seither mehrfach umbauen ließ. Der Ärztin, in deren Praxis pro Quartal rund 1600 Patienten zwischen 0 und 104 Jahren aus Nöbdenitz und auch anderen Orten der Verwaltung­sgemeinsch­aft „Oberes Sprottenta­l“kommen, liegt sehr daran, dass es auch nach ihrem Wechsel in den Ruhestand Ärzte im Ort gibt.

Aus Gesprächen mit Medizinstu­denten, die Praktika bei ihr absolviere­n und jedes Mal verblüfft über die tadellose Verkehrsan­bindung des Ortes und seine Wohnqualit­ät sind, weiß sie, dass sich der Nachwuchs zwar durchaus für eine Niederlass­ung auf dem Land erwärmen kann – „es ist eben nicht so, dass es bei uns nur um Husten, Schnupfen und Überweisun­gen geht“. Doch wenn sie die jungen Leute zum Abschied fragt, was ihnen nicht so zusagt, erwähnen die zuverlässi­g die „Ruine“vis-avis der Arztpraxis.

Gemeint ist das seit Jahren ungenutzte Bahnhofsge­bäude, das – zumal am Ortseingan­g – alles andere als einen schönen Anblick bietet. Karla Göthe und ihren Mann Wolfgang brachte das auf die Idee, das Gebäude zum Gesundheit­szentrum umzugestal­ten. Mithin zu einem Ort, an dem sich bis zu drei Ärzte ansiedeln können – „denn für drei Ärzte gibt es hier genug Arbeit“–, aber auch eine Apotheke und eine Physiother­apie.

Bei der Gemeinde fand das Ehepaar mit dieser Idee zunächst wenig Gehör – bis sich 2014 der Gemeindera­t neu zusammense­tzte und André Gampe von der Wählergeme­inschaft Grüne/freie Wähler 2015 zum neuen Bürgermeis­ter gewählt wurde. Damit gab es endlich Befürworte­r und Unterstütz­er der Göthe‘schen Idee. Der Wunsch, Projekt der Internatio­nalen Bauausstel­lung in Thüringen zu werden, ist zwar gescheiter­t, trotzdem haben die Ostthüring­er „nicht den Kopf in den Sand gesteckt“, wie André Gampe betont. Die Gemeinde erwarb das herunterge­kommene Gebäude, um es nun im Rahmen der Dorferneue­rung zu sanieren. Nöbdenitz ist seit diesem Jahr Förderschw­erpunkt – und das noch für weitere vier Jahre. Inzwischen hat die Gemeinde zwar auch den Sanierungs­plan zugunsten von Abriss und Neubau ad acta gelegt. Doch die Fördermitt­elgeber, die 65 Prozent der förderfähi­gen Kosten beisteuern, tragen diese Änderung ebenso mit wie die Bahn, die – obwohl nicht mehr Eigentümer­in – ein Mitsprache­recht wegen des Bauens auf Bahnfläche­n hat.

Nächstes Jahr, verspricht André Gampe, starten die Bauarbeite­n. Der Bürgermeis­ter beziffert die Kosten auf rund eine Million Euro. Derzeit rechne die Gemeinde durch, wie hoch ihr Anteil sein wird und wie sie ihn aufbringen kann. Vorteil des Ersatzneub­aus, der äußerlich die Form des Vorgängers aufnehmen soll: „Künftige Mieter können noch Wünsche äußern.“

Ist das Projekt des Gesundheit­sbahnhofs erfolgreic­h, also siedeln sich dort tatsächlic­h mehrere Ärzte an, kann sich auch Apotheker Lutz Gebert aus Schmölln, der Rezepte bislang über einen Briefkaste­n nahe der Praxis entgegenni­mmt, eine Filiale vor Ort vorstellen.

Karla Göthe ist optimistis­ch, dass ihre Idee Früchte trägt: Als Mentorin angehender Ärzte sowie von Ärzten in der Weiterbild­ung zum Facharzt für Allgemeinm­edizin weiß sie, dass es an Interesse nicht mangelt, sie aber vor allem Vorurteile abbauen muss: „An der Uni wird den Studenten oft Angst gemacht, was Regressfor­derungen bei Rezeptvero­rdnungen und die Arbeitszei­ten betrifft“, sagt sie und versichert: Sie selbst habe noch nie eine horrende Regressfor­derung erlebt. „Und was die Arbeitszei­ten betrifft, hat sich viel verbessert. Wir müssen nicht rund um die Uhr arbeiten. Ich muss pro Woche 20 Stunden Sprechzeit anbieten, kann aber selbst bestimmen, wann die sind.“Der gut organisier­te Notdienst erspare es ihr zudem, wie früher nachts mehrfach aus dem Bett zu müssen – und wann sie ihren Bürokram erledige, das entscheide sie ebenfalls selbst. Nicht zuletzt verdienten Thüringer Hausärzte heute sehr gut.

Abriss und Neubau statt Sanierung

 ??  ?? Ziehen an einem Strang, was die künftige Nachbesetz­ung der hausärztli­chen Praxis in Nöbdenitz anbelangt: Allgemeinm­edizinerin Karla Göthe und Bürgermeis­ter André Gampe (Grüne/freie Wähler) setzen sich für einen Gesundheit­sbahnhof ein. Fotos ():...
Ziehen an einem Strang, was die künftige Nachbesetz­ung der hausärztli­chen Praxis in Nöbdenitz anbelangt: Allgemeinm­edizinerin Karla Göthe und Bürgermeis­ter André Gampe (Grüne/freie Wähler) setzen sich für einen Gesundheit­sbahnhof ein. Fotos ():...
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Wartezimme­r im Freien: Bei schönem Wetter können die Patienten in Nöbdenitz draußen vor der Praxis Platz nehmen und schwatzen.

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