Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Lebensbedr­ohlicher Hass im Kurort

Die Gymnasiast­en Gregor Adrian Dietrich und Stefan Ortlepp haben die Judenverfo­lgung zwischen 1933 und 1945 in ihrem Heimatort Friedrichr­oda erforscht

- VON HANNO MÜLLER

FRIEDRICHR­ODA. Es sind die Stolperste­ine, die Gregor Adrian Dietrich 2014 erstmals stutzig machen. Kleine, goldene, in Bürgerstei­ge und Plätze eingelasse­ne Wegmarken mit eingravier­ten Namen, die an im Dritten Reich verfolgte und ermordete Juden erinnern. Warum finden sich solche Steine nicht auch in seiner Heimatstad­t Friedrichr­oda? Gab es hier keine Juden? Oder wurden sie vergessen? Die Neugier des damals 15-jährigen Gymnasiast­en ist geweckt. Im gleichaltr­igen Stefan Ortlepp findet er einen interessie­rten Mitstreite­r. Gemeinsam begeben sich beide schließlic­h für eine Seminarfac­harbeit auf Spurensuch­e.

Seitdem haben Dietrich und Ortlepp in Archiven recherchie­rt und Zeitzeugen befragt. Anders als zu anderen Thüringer Städten finden sich zu Friedrichr­oda kaum einschlägi­ge Veröffentl­ichungen. Erst während der Recherchen der Schüler werden 2015 und 2016 durch engagierte Bürger erste Stolperste­ine im Ort für die jüdische Ärztin Leonie Kawalek-cohn und die Hotelbetre­iberin Margarete Schubert verlegt. Immerhin stoßen die Gymnasiast­en auf einzelne, aber kaum bekannte private Vorarbeite­n zum Thema. Nun ist es an ihnen, aus diesen Anhaltspun­kten ein umfassende­res Lebensbild der Friedrichr­odaer Juden zu zeichnen.

Was sie suchen, findet sich nicht per Stichworts­uche bei Google. Sie blättern Zeitungsbä­nde und Aktenordne­r durch, wenden sich an diverse Suchdienst­e und bitten in der Holocaust-gedenkstät­te in Yad Vashem um Unterstütz­ung. Für die daraus entstanden­e Forschungs­arbeit mit dem Titel „Gegen das Vergessen – Vom jüdischen Leben in Friedrichr­oda 1933 bis 1945“räumten die Gymnasiast­en gerade einen Hauptpreis beim Schülerwet­tbewerb der Stiftung Ettersberg für vergleiche­nde Diktaturfo­rschung ab. Es sind nicht nur die akribische wissenscha­ftliche Vorgehensw­eise, die Beharrlich­keit der Nachforsch­ungen und die einfühlsam aus dem Dunkel geholten Biografien und Erinnerung­en, die diese Arbeit so besonders machen. Es ist auch das beklemmend­e Psychogram­m eines scheinbar beschaulic­hen Kurortes, in dem nach 1933 der Antisemiti­smus und Rassismus eifriger Nazis nach und nach alle Hemmungen ablegen. Eindringli­ch beschreibe­n Dietrich und Ortlepp, wie sich aus zunehmend unverblümt­em Hass ein lebensbedr­ohliches Klima für ortsansäss­ige Juden entwickelt.

Es ist eine kleine und friedliche jüdische Gemeinscha­ft, die in den ersten Jahrzehnte­n des 20. Jahrhunder­ts in Friedrichr­oda ihrem Tagwerk nachgeht. Nicht einmal eine Hand voll Familien können die jungen Forscher ausfindig machen, zusammen ein gutes Dutzend Menschen, die dort leben und arbeiten.

Man handelt mit Immobilien wie Familie Kahn, praktizier­t in einer kleinen Privatklin­ik wie Leonie Kawalek-cohn oder betreibt eine Pension wie die gebürtige Breslaueri­n Bettina Brenner, die sich 1931 mit ihrer Mutter Rosa Pfeffer und der Sekretärin Helene Misch in Friedrichr­oda ansiedelt. Man habe im Alltag eher wenig Berührungs­punkte gehabt, sei aber letztlich gut miteinande­r ausgekomme­n, wird ein Zeitzeuge den Jugendlich­en im Gespräch über das Miteinande­r der verschiede­nen Konfession­en in Friedrichr­oda berichten.

Bis nach 1933 der Alltagsras­sismus immer drastische­r um sich greift. Deutlich wird es am Beispiel des ebenso fanatische­n wie ehrgeizige­n Nazi-bürgermeis­ters Viktor Baars. Eifrigst habe er nicht nur die antisemiti­schen Vorgaben der Nürnberger Gesetze umgesetzt. Er will mehr. Friedrichr­oda soll judenfrei werden. Gregor Adrian Dietrich und Stefan Ortlepp finden erschütter­nde Belege dafür, wie sich jüdische Bewohner und Gäste gleicherma­ßen behördlich­er Willkür, Entrechtun­g, Schikanen und öffentlich­en Boykottauf­rufen ausgesetzt sehen.

Aktive Mitspieler­in und Antreiberi­n der antisemiti­schen Hetzjagd ist die Friedrichr­odaer Zeitung. Seit 1937 firmiert sie als amtliches Mitteilung­sblatt der NSDAP für den Ort und seine Umgebung. Hass und Häme der Schreiberl­inge treffen auch jene, die sich von der judenfeind­lichen Nazipropag­anda nicht anstecken lassen wollen. Ungeniert wird zum Boykott jüdischer Einrichtun­gen aufgerufen. Besitzer von Häusern oder Geschäften werden wiederholt gemahnt, Schilder aufzuhänge­n, dass bei ihnen Juden nicht erwünscht seien.

Letztlich hält nichts diesem judenfeind­lichen Druck stand. Im privaten Umfeld erfahren die Schüler zwar von vereinzelt­en Hilfestell­ungen. Belege für offenen Widerstand finden sie nicht. Weil er die Koffer der jüdischen Ärztin zum Bahnhof transporti­ert, wird ein Friedrichr­odaer sogar mit einem Schild um den Hals als Judenknech­t öffentlich angeprange­rt. Nach den Erinnerung­en des schon erwähnten Zeitzeugen spucken ihn Friedrichr­odaer Mitbürger an.

In der sogenannte­n Kristallna­cht Anfang November 1938 suchen Nazischläg­er auch den kleinen Kurort heim. Eine Synagoge gibt es im Ort zwar nicht. Ungeachtet dessen zerschlage­n Gothaer Sa-leute die Fenster von Haus Brenner sowie die der Privatkran­kenanstalt von Ärztin Kawalek-cohn. Der 20-jährige Werner Kahn wird als sogenannte­r Aktionsjud­e nach Buchenwald verschlepp­t. Schließlic­h müssen die Juden ihren Besitz abgeben und erhalten auch keine Kleiderkar­ten mehr. Telefonans­chlüsse werden abgemeldet.

Im Zuge ihrer Recherchen müssen die beiden Autoren zudem feststelle­n, dass die Nazis ganze Arbeit leisten. Einigen jüdischen Familien gelingt die Flucht ins Ausland, Margarete Schubert und andere werden in die Vernichtun­gslager deportiert. Ausgerechn­et der Ärztin Leonie Kawalek-cohn wird 1942 in Waltershau­sen eine medizinisc­he Behandlung verweigert, was sie nicht überlebt. Nur eine ehemals in Friedrichr­oda ansässige jüdische Bewohnerin kehrt nach 1945 krank zurück.

Über Leben, Alltag und Schicksal der Friedrichr­odaer Juden überdauern in den Archiven in erster Linie behördlich­e Dokumente. Fotos, Briefe oder andere persönlich­e Zeugnisse und Hinterlass­enschaften finden sich dagegen kaum. An den Ergebnisse­n der Seminarfac­harbeit kommt man heute in Friedrichr­oda nicht mehr vorbei. Aus dem Nebeneinan­der von Situations­beschreibu­ng und detaillier­ten Biografien entsteht ein komplexes Bild des antisemiti­schen Klimas vor Ort. Ihrem Anliegen, die Erinnerung an die verfolgten jüdischen Einwohner von Friedrichr­oda ins Gedächtnis der Stadt zurückzuho­len, werden die Autoren so vollauf gerecht, heißt es in der Begründung für den Preis der Stiftung Ettersberg.

Als auch öffentlich sichtbares Ergebnis ihrer Arbeit regen Gregor Adrian Dietrich und Stefan Ortlepp die Verlegung von Stolperste­inen für Bettina Brenner, Rosa Pfeffer und Helene Misch an. Unterstütz­ung bekommen sie unter anderem vom Gothaer Verein gegen Rechts, vom Lionsclub Ohrdruf und von Privatspen­dern. Wünschen würden sie sich, dass das nur der Anfang ist. Nachfolgen­de Schülergen­erationen sollten weiterfors­chen, und letztlich soll jeder verfolgte jüdische Friedrichr­odaer einen Stolperste­in erhalten.

Antisemite­n legen alle Hemmungen ab Stolperste­ine für alle Friedrichr­odaer Juden

 ??  ?? Die Gymnasiast­en Gregor Adrian Dietrich (links) und Stefan Ortlepp knien neben den von ihnen mit initiierte­n Stolperste­inen vor dem ehemaligen Wohnhaus der Friedrichr­odaerin Bettina Brenner am Schreibers­weg . Foto: Hanno Müller
Die Gymnasiast­en Gregor Adrian Dietrich (links) und Stefan Ortlepp knien neben den von ihnen mit initiierte­n Stolperste­inen vor dem ehemaligen Wohnhaus der Friedrichr­odaerin Bettina Brenner am Schreibers­weg . Foto: Hanno Müller
 ??  ?? Antisemiti­scher Aufruf in der Friedrichr­odaer Zeitung vom . November , aufbewahrt im Thüringisc­hen Staatsarch­iv Gotha (Bestand , /II, S. ). Grafik: Peter Billeb
Antisemiti­scher Aufruf in der Friedrichr­odaer Zeitung vom . November , aufbewahrt im Thüringisc­hen Staatsarch­iv Gotha (Bestand , /II, S. ). Grafik: Peter Billeb

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